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Joseph Brodsky

Иосиф Бродский

In einem zentralistischen Staat sehen alle Räume gleich aus … Die gleichen Holzpaneele, Tische, Stühle … Die gleichen Porträts unserer Gründer: Lenin, Stalin, Mitglieder des Politbüros … Und dann die verputzten Wände … mit der blauen horizontalen Linie in Augenhöhe, die unfehlbar durch das ganze Land lief wie der Strich eines unendlichen gemeinsamen Nenners: in Hallen, Krankenhäusern, Fabriken, Gefängnissen, Fluren von Kommunalwohnungen.

Joseph Brodsky, Weniger als man (1976)

In den frühen 1950er Jahren sitzen alle sowjetischen Schüler in solch identisch gestrichenen Klassenräumen, wie Brodsky sie beschreibt, und werden aus den gleichen Schulbüchern mit Lernstoff gefüttert, der mit der Marxistisch-Leninistischen Ideologie konform geht. Die Menschen sollen sich nicht nur im Aussehen, sondern auch in ihren Gedanken gleichen. Praktische Zahnräder im globalen Projekt des Aufbaus einer lichten kommunistischen Zukunft.

Von früh an passt der spätere Nobelpreisträger Joseph Brodsky nicht in den Plan einer monolithischen Gesellschaft. Mit 15 Jahren verlässt er die Schule. Das ist ein  nie dagewesener, unerhörter Ausdruck von Unabhängigkeit, den Brodsky später als seinen ersten „freien Akt“ beschreibt.

Erster freier Akt

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Der einzige Weg für einen Jungen, gegen das ihm drohende Los anzukämpfen, war die vorgezeichnete Spur zu verlassen. Das kam einen hart an … Denn dadurch wurde man anders als die Mehrheit, und man hatte schließlich mit der Muttermilch eingesogen, dass die Mehrheit recht hat … Eines Morgens im Winter – ohne offensichtlichen Grund – stand ich mitten in der Stunde auf und legte meinen melodramatischen Abgang hin, ging durch das Schultor und wusste genau, dass ich nicht wiederkommen würde.

Joseph Brodsky, Weniger als man (1976)

Brodskys Ablehnung der Sowjetunion ist Instinkt. Sein Talent muss er zwar noch entdecken, doch für die kommunistischen Erzieher ist seine Individualität schon zu diesem Zeitpunkt ein Problem: „Neugier …, der Geist unabhängigen individuellen Erforschens, das Bedürfnis schöne Dinge zu erschaffen oder zu betrachten …, die Wahrheit zu finden werden verdammt, weil sie Unterschiede zwischen Menschen vergrößern, weil sie mitunter nicht zur harmonischen Entwicklung einer monolithischen Gesellschaft beitragen.“2 (Isaiah Berlin ).

Nachdem er die Schule verlassen hat, arbeitet Brodsky in einer Fabrik, in einem Leichenhaus und fährt auf geologische Expeditionen. Auf diesen Expeditionen beginnt er, Gedichte zu schreiben, die bei den jungen Menschen bald sehr beliebt sind.

Brodskys Generation wächst rechtzeitig heran, um die Entstalinisierung  mitzuerleben. Nach dem Tod des totalitären Herrschers Joseph Stalin  befriedigte die alte Ideologie die spirituellen Bedürfnisse der jungen Menschen nicht länger. Bald ist Brodsky das vierte Mitglied in einer eng verwobenen Leningrader Dichtergruppe. Einer von ihnen macht Brodsky mit Anna Achmatowa  bekannt. Zu diesem Zeitpunkt beginnt Brodskys Suche nach Erinnerung, nach Wahrung seiner Verbindung zur Vergangenheit, dem Brückenbau in Russlands vorrevolutionäre kosmopolitische Kultur.

Der Zauber­­­­­­­chor

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Jedes Treffen mit Achmatowa war für mich wundervoll. Wenn du körperlich spürst, dass du es mit einem Menschen zu tun hast, der besser ist als du. Erheblich besser. Mit einem Menschen, der dich allein durch die Intonation seiner Worte verwandelt. Schon durch einen einzigen Ton ihrer Stimme oder eine Kopfbewegung verwandelte Achmatowa einen in einen Homo Sapiens.

Solomon Wolkow, Dialoge mit Brodsky (1998)

Brodsky ist einer von vier jungen Dichtern, die Achmatowa oft in ihrer „Bude“ in Komorowo in der Nähe von Leningrad besuchen. Achmatowa nennt sie alle zusammen den „Zauberchor“ und Brodsky den talentiertesten von ihnen. Die Freundschaft mit Anna Achmatowa wird für ihn zum Symbol der Weitergabe des poetischen Staffelstabes.

In der Tauwetterperiode kommt es in der UdSSR zu einem authentischen Wiederaufleben von Poesie, nachdem der Staat jahrzehntelang beispiellose Anstrengungen gemacht hatte, Poesie zu organisieren. Während des Stalinismus waren Dichter dazu benutzt worden, der Unterdrückung Prestige zu verleihen. Viele waren für die Sache gewonnen worden, andere wurden zum Schweigen gebracht, zensiert, exiliert oder sogar ermordet.

In den späten 1950er Jahren entsteht der Samisdat, in dem erstmals die wahren Wünsche der Leserinnen und Leser Ausdruck finden. So können die jungen non-konformistischen Dichter die strenge Sowjetzensur umgehen und Zugang zu ihrer eigenen Leserschaft finden. Auch der Eiserne Vorhang wird löchriger: Amerikanische Filme, Jazzplatten, Bücher aus dem Westen, Künstler aus dem Ausland und Studenten kommen nun in die UdSSR.

Doch die bedrückende Realität und die Träume prallen aufeinander. Brodskys Generation fühlt sich desillusioniert.

Der ­Pro­­­zess

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Richterin: Wovon leben sie?
Brodsky: Ich schreibe Gedichte. Ich übersetze. Ich denke, …
Richterin: Uns interessiert nicht, was Sie „denken“. Sagen Sie uns, warum sie nicht gearbeitet haben. Was bitteschön ist Ihre berufliche Qualifikation?
Brodsky: Dichter. Lyrikübersetzer.
Richterin: Und wer hat Sie zum Dichter ernannt? Wer hat Sie auf die Liste der Dichter gesetzt?
Brodsky: Niemand … Wer hat mich auf die Liste der Menschen gesetzt?

Notizbuch von Frida Wigdorowa

Brodskys Lyrik ist streng genommen nicht antisowjetisch. Sie weist aber formale Experimente, individualistische Stimmung, eine starke metaphysische Komponente und gelegentlich Sozialkritik auf. Manchmal läuft sie auch den sowjetischen puritanischen Sitten zuwider. Dies entspricht nicht den offiziellen Vorstellungen von Literatur, was bedeutet, dass seine Gedichte es nicht an der Zensur vorbei schaffen. In der Underground-Szene wird Brodsky jedoch immer bekannter. Hannah Arendt glaubt, dass totalitäre Staaten individuelle Spontaneität sogar mehr fürchten als eine direkte politische Opposition.3

Bald wird Brodsky zum Opfer eines politischen Prozesses, 1964 wird er als so genannter Schmarotzer zu einer fünfjährigen Verbannung und Strafarbeit im Norden Russlands verurteilt. Brodskys Verbannung in das abgelegene Dorf Norenskaja im Norden Russlands isoliert ihn nicht nur sozial, sondern setzt auch seiner dichterischen Karriere ein Ende. Die Tortur durch die Einsamkeit wird für Brodsky jedoch zu einem Wendepunkt in seiner künstlerischen Entwicklung.

Die Verban­­nung

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Im Dorf wohnt Gott nicht in den Winkeln nur,
wie Spötter meinen, sondern überall.
Er heiligt Dächer, Teller, Schüsseln, Pfannen,
teilt ehrlich jede Doppeltür in Hälften.
Im Dorf ist Gott im Überfluß vorhanden.
Im Eisentopf kocht er am Samstag Linsen,
er tänzelt leicht verschlafen überm Feuer
und winkt mir als dem Augenzeugen zu.

Joseph Brodsky, W derewne Bog shiwjot ne po uglam, 1964, Übersetzung: Sylvia List4

In Norenskaja bringt Brodsky sich Englisch bei und entdeckt die Gedichte von W.H. Auden. Er übersetzt auch den englischen Metaphysiker des 17. Jahrhunderts John Donne und schreibt Gedichte in Anlehnung an Robert Frost. Frosts stoische Begegnungen mit der ungezähmten amerikanischen Natur inspirieren Brodsky, als er sich den Urgewalten des russischen Norden stellen muss. Das Exil wird zu seinem zentralen Mythos.

Inzwischen findet eine internationale Kampagne zur Verteidigung von Brodsky statt. Einige sowjetische wie westliche Intellektuelle setzen sich für ihn ein. Nach 18 Monaten Verbannung kehrt Brodsky im November 1965 als etablierter Dichter des Underground nach Leningrad zurück.

Andert­­halb Zimmer

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Meine Haltung war schierer Trotz, Ekel … die bewussteste Reaktion meinerseits auf die Politik war wohl, die Regierung immer zu ignorieren, den Staat zu ignorieren und etwas zu tun, was nichts damit zu tun hat … weder mit dem Programm, noch der Ideologie, aber vor allem nicht mit der Sprache oder mit der Art, Sprache einzusetzen.

Brodsky im Gespräch mit Czesław Miłosz, 1981

Nach seiner Rückkehr aus der Verbannung nach Leningrad lebt Brodsky ein Leben, in dem das Unheilsame auf bizarre Weise mit dem Erfolg verflochten ist: Seine Gedichte können nicht veröffentlicht werden, er hält sich an Übersetzungen, um ein dürftiges Leben zu sichern, während sein Haus von der Geheimpolizei beschattet wird. Gleichzeitig aber wird er zum Inbegriff des literarischen Leningrader Underground. Junge Leute suchen im Samisdat  seine Gedichte und strömen zu seinen inoffiziellen Lyriklesungen. 1970 erscheint in New York sein erster Gedichtband, von ihm selbst zusammengestellt.

Menschen aus dem Westen, die es in die UdSSR schafften, besuchen seine „anderthalb Zimmer“ – eine Kommunalka , die er mit seinen Eltern teilt. Brodskys Schreibtischlampe ist mit Etiketten von Camel-Zigaretten beklebt – seine amerikanische Lieblingsmarke. Im Regal über seinem Schreibtisch stehen Bücher aller wichtigen englischen und amerikanischen Dichter, darunter W. B. Yeats or T. S. Eliot. Geistig lebt Brodsky schon im Ausland. 1972 wird er auch physisch gezwungen, sein Heimatland für immer zu verlassen.

Fort­setzung des Raums

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Ich habe Russland nicht aus freiem Willen verlassen. … Ich bezweifle, dass jemand entzückt ist, wenn er aus seinem Zuhause hinausgeworfen wird. Sogar wenn Menschen von selbst gehen. Egal unter welchen Umständen du gehst – Zuhause bleibt zu Hause. Egal wie du dort gelebt hast – gut oder mies … Russland ist mein Zuhause; ich habe mein ganzes Leben dort gelebt, und für alles was ich in meiner Seele habe bin ich Russland und seinen Menschen verpflichtet. Und – das ist das Wichtigste – seiner Sprache.

Joseph Brodsky, A writer is a lonely traveler, and no one is his helper , 1972

Auch wenn Brodsky mit den sowjetischen Dissident·innen sympathisiert, glaubt er nicht, dass Politik die passende Tätigkeit für einen Dichter ist. Er favorisiert stattdessen einen „ästhetischen Dissens“, eine ästhetische Verweigerung. Für eine Ausweisung aus dem Land reicht es jedoch. Am 4. Juni 1972 muss Brodsky ins Flugzeug steigen, das ihn nach Wien bringt. In Leningrad bleiben seine schon alten Eltern, seine Ex-Freundin mit ihrem gemeinsamen Sohn, Freunde und Leser·innen zurück. Viele von ihnen sieht er nie wieder.

Er siedelt sich in den USA an und versucht, in einer fremden Umgebung als russischer Dichter zu überleben. Im Brief an die Redaktion von The New York Times  schreibt er: „Ich bin nach Amerika gekommen und werde hier leben. Ich hoffe, dass ich meine Arbeit tun kann, also Gedichte schreiben, wie vorher auch. Ich habe ein neues Land gesehen, aber der Himmel ist derselbe.“ Brodsky will sich seine Anerkennung in seinem neuen sprachlichen Milieu in den USA selber verdienen. Deswegen kauft er sich im Sommer 1977 eine tragbare Schreibmaschine Lettera 22 und macht sich daran, „Essays, Übersetzungen und gelegentlich ein Gedicht“ (To Please A Shadow , 1987) auf Englisch zu schreiben.

1987 wird Brodsky mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.

Der Nobel­­preis

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Kunst „fördert im Menschen, wissentlich oder unwissentlich, eine Ahnung seiner Einmaligkeit, seiner Individualität, seiner Abgetrenntheit – so wird er von einem sozialen Tier zu einem autonomen ‚Ich‘ … Egal ob jemand Autor oder Leser ist, die Aufgabe besteht in erster Linie darin, ein Leben zu meistern, das das jeweils eigene ist, nicht von außen aufgedrückt oder vorgeschrieben, egal wie vornehm seine Erscheinung ist. Für jeden von uns ist nur ein Leben vorgesehen, und wir wissen haargenau, wie es endet. Es wäre bedauerlich, diese eine Chance zu vergeben an jemanden anderen, an dessen Erscheinung, an dessen Erfahrung, an eine Tautologie.

Joseph Brodsky, Nobelpreisrede (1987)

Durch den Nobelpreis bekommt Brodsky die Gelegenheit, ein zusammenfassendes Statement zu seiner künstlerischen und persönlichen Erfahrung zu geben. Er glaubt, dass Unabhängigkeit und Befreiung – genau so wie Sklaverei – durch Sprache und Poesie geschehen. Literatur könnte zumindest als Impfstoff, wenn nicht gar als Garantie gegen Unfreiheit dienen.

Er hatte das Trauma des 20. Jahrhunderts durchlebt und war Zeuge der Versklavung einer gesamten Nation durch die Sprache der Ideologie geworden. Sein Wirken gilt dem Wohle intellektueller und spiritueller Freiheit, und er hoffte, dass seine Lyrik Teil der Befreiung des Geistes sein könnte. „In die kleinen Nullen … trägt die Kunst ein ‚Punkt, Punkt, Komma, Strich‘ und transformiert damit jede Null in ein winziges menschliches, wenn auch nicht immer hübsches, Gesicht.“

Nach dem Zerfall der UdSSR kehrt Brodsky nicht in sein Heimatland zurück. Er erklärt es damit, dass er nicht in der Lage ist, als Tourist in das Land zu reisen, in dem er die besten (und schlechtesten) Jahre seines Lebens verbracht hat. In Wahrheit ist der offensichtlichste Grund, warum Brodsky nicht noch einmal nach Russland fahren will, selbst als sich die Gelegenheit bietet, dass seine beiden Eltern in Leningrad schon gestorben sind und ihnen der Wunsch, ihren geliebten Sohn noch einmal wiederzusehen, versagt geblieben war.

Er selbst stirbt an einem Herzinfarkt in der Nacht vom 27. auf den 28. Januar 1996 in seiner Wohnung in New York. Zum Zeitpunkt seines Todes ist er 55 Jahre alt.

Joseph Brodsky liest sein Gedicht Dido und Eneas während eines Konzerts im Rahmen der Nobelpreisverleihung in Stockholm, Dezember 1987

Fußnoten

Benedict, Helen (1985): The Flight from predictability: Joseph Brodsky, in: The Antioch Review, Vol. 43, No. 1, (Winter 1985), 20

Berlin, Isaiah (1949): Democracy, Communism, and the Individual

Arendt, Hannah (1951): The Origins of the Totalitarianism, New York, S. 331-332

Brodskij, Jossif (1978): Einem alten Architekten in Rom, München, S. 40

Drehbuch und Text: Zakhar Ishov 
Illustrationen: Anna Che 
Animation: Philipp Yarin unter Mitarbeit von Victoria Spiryagina
Übersetzung aus dem Englischen: Friederike Meltendorf

Veröffentlicht: 14.12.2021