Praktiken und Konsequenzen

Wie ist die Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion entstanden? Welche Praktiken nutzten Andersdenkende, um sich Gehör zu verschaffen? Wie gelang es ihnen, unter Bedingungen der Zensur miteinander oder mit Unterstützer∙innen im Ausland zu kommunizieren? Mit welchen Folgen hatten sie zu rechnen, wenn sie abweichende Meinungen offen äußerten? Ein Überblick über das Anderssein in der Sowjetunion.

Neue Freiheiten trotz Parteidiktatur

Die Sowjetunion war ein von der kommunistischen Partei zentralistisch regierter Einparteienstaat. Sie existierte fast 70 Jahre bis zu ihrem Zerfall im Jahr 1991. Die Machthaber richteten ihre Politik an den Leitlinien der kommunistischen Ideologie aus, deren Umsetzung von der Partei und staatlichen Behörden wie dem Geheimdienst KGB kontrolliert wurde. Während dieser langen Zeit unterschieden sich die individuellen Freiheiten und Handlungsspielräume für einzelne Sowjetbürger∙innen mitunter erheblich.

Das Tauwetter nach dem Terror der Stalinzeit

Nach Stalins Tod  1953 erfolgte unter Nikita Chruschtschow  ein politischer Kurswechsel, der als Tauwetter  in die Geschichte einging. Es entstand zwar keine freie Gesellschaft, die Reformen läuteten jedoch eine neue politische Ära ein, nachdem Stalins Herrschaft ein Vierteljahrhundert hinweg von politischer Willkür und staatlichem Terror geprägt war. Dazu zählten die Zwangskollektivierung der Bauernschaft  zu Beginn der 1930er Jahre, die damit verbundene Hungersnot , die Massenerschießungen 1937/38  und der Aufbau eines ausgedehnten Lagersystems GULag , in dem Millionen von Gefangenen in Haft Zwangsarbeit leisten mussten. Der Zweite Weltkrieg  brachte zusätzliches Leid über die sowjetische Bevölkerung. Erst das Tauwetter bewirkte ein gesellschaftliches Aufatmen und neue Freiheiten, die ein Andersdenken, auch in der Öffentlichkeit, denkbar und möglich machten.

Politische Reformen und gesellschaftliche Neuausrichtung

Im Zuge dieses sogenannten Tauwetters verurteilte die politische Führung seit 1956 die Repressionen der Stalinzeit. Das zuvor fast komplett eingefrorene politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben lebte schrittweise wieder auf. Das Land öffnete sich außerdem Richtung Westen und förderte ideologiekonforme offizielle Kulturkontakte und Begegnungen. Die weitgehenden Reformen riefen bei  Sowjetbürger∙innen den Wunsch hervor, aktiv an der Gestaltung der Zukunft des Landes zu partizipieren: Nach langjährigen Entbehrungen hofften nun viele auf eine Normalisierung des Alltags, auf wirtschaftliche Veränderungen und ein modernes Leben mit Konsumgütern.

Die gesellschaftlichen Veränderungen ließen sich trotz staatlicher Steuerung der Medienlandschaft, des Kunst- und Wissenschaftsbetriebes, des Erziehungs- und Bildungsbereichs nicht mehr rückgängig machen. Immer mehr Menschen legten ihre Angst davor ab, eigene Standpunkte und persönliche Meinungen zu artikulieren oder ihrer individuellen Kreativität Ausdruck zu verleihen. Insbesondere das aufkeimende Interesse der jüngeren Generation an der westlichen Populärkultur ließ sich trotz massiver Kalter-Kriegs-Propaganda und dem Aufbau des Eisernen Vorhangs seit Ende der 1950er Jahre nicht mehr zurückdrängen. In den 1960er bis 1980er Jahren entwickelten sich sowohl die Menschenrechtsbewegung als auch lebendige alternative Kulturszenen in einzelnen sowjetischen Städten.

Menschenrechte im autoritären Staat

Auch wenn das kulturelle Leben und der Alltag seit der Mitte der 1950er Jahre bunter geworden waren, vollzog die politische Führung einen Zick-Zack-Kurs. Die Diskussionen und Alternativen, die Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag 1956  noch selbst initiiert hatte, indem er den Personenkult Stalins verurteilte , wurden noch im gleichen Jahr erstickt. Die Regierung ließ 1956 sowjetische Truppen in Ungarn einmarschieren, schlug den dortigen Volksaufstand nieder und verdeutlichte damit den eigenen Bürgern, dass ein Abweichen von der Parteilinie weiterhin bestraft werden würde.

In den Jahren 1957 und 1958 kam es in der Sowjetunion zu einer Welle von Verhaftungen aus politischen Motiven, die lautlos vonstatten ging und von der Öffentlichkeit nicht rezipiert wurde. Nach der Absetzung Nikita Chruschtschows intensivierte sein Nachfolger Leonid Breshnew  die weitgehend repressive Politik gegen Andersdenkende . Anders als sein Vorgänger inszenierte er die Repressionen als Medienspektakel : Seit 1965 wurde das Strafverfahren gegen die beiden sowjetischen Schriftsteller Andrej Sinjawski und Juli Daniel geführt und fand breiten Widerhall in der offiziellen Berichterstattung. Mit der Verlagerung der Repressionen in die öffentliche Wahrnehmung veränderte sich auch die Art, wie sich einzelne mutige Stimmen dagegen erhoben. Hatte Protest zuvor im Verborgenen stattgefunden, wurde er nun offen artikuliert.

„Achtet Eure Verfassung“. Geburtsstunde der Menschenrechtsbewegung

Für den 5. Dezember 1965, dem „Tag der sowjetischen Verfassung“, riefen Aktivist∙innen zu einer Demonstration auf dem Puschkin-Platz in Moskau auf: Sie demonstrierten gegen die Einschränkung der geistigen Freiheit und für einen öffentlichen Gerichtsprozess im Fall Sinjawski/Daniel . Dabei bezogen sie sich auf die geltende Gesetzgebung, da die Sowjetunion seit 1936 über eine Verfassung verfügte, die ihren Bürger∙innen auf dem Papier weitläufige Rechte garantierte. „Haltet eure Verfassung ein!“ war eine der wichtigsten Losungen der sowjetischen Menschenrechtler∙innen. Zudem hatte die Sowjetunion nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Allgemeine  Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet.  Die Praxis, Protest in Form von Rechtsverteidigung (Prawosaschtschita) zum Ausdruck zu bringen, kam ursprünglich aus der Lagerkultur und wurde in den 1960 und 1970er Jahren im Zuge des international aufkommenden Menschenrechtsdiskurses von Angehörigen politischer Gefangener und ihren Unterstützer∙innen übernommen . Auch Andersdenkende, die vorrangig für Religionsfreiheit, nationale Selbstbestimmung oder Reisefreiheit eintraten, nutzten sie zur Durchsetzung ihrer Interessen.

Samisdat und die Chronik der laufenden Ereignisse

Der illegale Selbstverlag, Samisdat, bildete seit Ende der 1960er Jahre das Rückgrat der sowjetischen Menschenrechtsbewegung und wurde zu ihrem wichtigsten Sprachrohr . Aus Anlass des Internationalen Jahres der Menschenrechte trugen Andersdenkende 1968 Informationen über Gesetzesverstöße und Repressionen zusammen. Diese Chronik der laufenden Ereignisse  vervielfältigten sie mit der Schreibmaschine und reichten Kopien vertraulich an Freunde und Bekannte weiter. Das Bulletin war Vorreiter für eine ganze Reihe regelmäßig erscheinender Underground-Zeitschriften und Almanache , die neben einzelnen Prozessdokumentationen , Beschwerdebriefen und Zeitzeugenberichten in den nächsten Jahren als illegale Kopien in Moskau, Leningrad und andernorts kursieren sollten. Der Höhepunkt der internationalen Menschenrechtspolitik war die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki im August 1975. In ihr wurde Nichteinmischung in innere Angelegenheiten der Staaten vereinbart, was für die Moskauer Führung wichtig war. Gleichzeitig wurde darin aber auch die Wahrung der Menschenrechte verankert. Daraufhin gründeten sich in der Sowjetunion inoffizielle Helsinki-Gruppen , die „Menschenrechtsmonitoring“ betrieben. Mit Hilfe von Informationen, die ins Ausland geschmuggelt wurden, versuchten sie sich Gehör zu verschaffen.

Druck aus dem Westen

Um auf die schwierige Menschenrechtslage innerhalb der Sowjetunion aufmerksam zu machen, richteten sowjetische Menschenrechtler∙innen im Verlauf der 1970er Jahren ihre Appelle immer öfter sowohl an die eigene Parteiführung, als auch an westliche Politiker∙innen und Medienvertreter∙innen. Zu diesem Zweck organisierten sie illegale Pressekonferenzen in Privatwohnungen und luden gezielt ausländische Korrespondent∙innen als Multiplikator∙innen ein. In Westeuropa und den USA war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vielzahl von NGOs aktiv, die sich wie Amnesty International für die allgemeine Einhaltung von Menschenrechten einsetzten oder aber unter nationalen Gesichtspunkten Unterstützungsarbeit leisteten, wie etwa im Fall der ukrainischen Diaspora oder der jüdischen Ausreisebewegung. Mit ihren Kampagnen boten sie nicht nur sowjetischen Menschenrechtler∙innen einen wichtigen Resonanzraum. Sie spezialisierten sich auf die Unterstützung politischer Gefangener, schrieben Briefe  und sendeten Hilfspakete in die Sowjetunion oder aber legten den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf den Austausch von Informationen oder Hilfe bei der Ausreise.

Tamisdat als Resonanzraum

Kurier∙innen  fuhren als Touristen∙innen oder Gaststudent∙innen getarnt nach Moskau, um sich dort gezielt mit Dissident∙innen zu treffen und Informationen durch den Eisernen Vorhang zu schmuggeln. Im Anschluss veröffentlichten in New York, Paris, London oder Amsterdam ansässige Unterstützer∙innen und Emigrantenverlage die geschmuggelten Schriftstücke im sogenannten Tamisdat (dt. Dort-Verlag). Entweder wurde die Literatur  in westliche Sprachen übersetzt und von eigens dafür gegründeten Spezialverlagen  publiziert. Oder aber sie wurde in Originalsprache herausgegeben und in Form winziger Taschenbuchausgaben in die Sowjetunion retour geschmuggelt. Im Westen galten Samisdat und Tamisdat aufgrund des staatlichen Informationsmonopols in der Sowjetunion lange Zeit als verlässlichste Quellen über die Lage und Entwicklungen im Land. Auch heute haben sie ihre kulturelle Bedeutung für die Erforschung von Dissens und Andersdenken in der Sowjetunion nicht eingebüßt.

Medien abseits der Zensur

Das staatliche Informationsmonopol erschwerte Bürger∙innen in der Sowjetunion den Zugang zu Informationen, deren Inhalte sich von der offiziellen Parteilinie unterschieden. Sowohl die Medienlandschaft als auch der Kulturbetrieb waren staatlich organisiert.

Totale Zensur

Alle Fernseh- und Radiosendungen, Kinofilme, Zeitungen und Zeitschriften, aber auch literarische oder künstlerische Werke sowie Musik- und Theaterproduktionen bedurften einer umfassenden Prüfung und Genehmigung durch die dafür zuständigen Zensurbehörden. Gleichzeitig stieg insbesondere im Nachgang des Tauwetters unter Nikita Chruschtschow die Anzahl jener Menschen, die sich einen anderen Lebensstil ersehnten, nach Alternativen suchten oder diese gar initiierten.

Presse aus dem Ausland

Neben der sowjetischen Presse stellte der Bezug von Zeitschriften aus dem Ausland eine zwar eingeschränkte, aber immerhin offizielle Möglichkeit dar, den eigenen Horizont zu erweitern. Im Angebot standen vorrangig Ausgaben aus den sozialistischen Bruderstaaten, die nicht allerorts zu bekommen waren und deren Lektüre Fremdsprachenkenntnisse erforderte. Vor dem Hintergrund der Geschichte des Landes und des Terrors der Stalinzeit  konnte bereits die Auseinandersetzung mit sozialistischen Alternativen aus Jugoslawien oder Polen eine wichtige Initialzündung für späteres politisches Engagement sein.

Westliche Stimmen durch quälendes Rauschen

Eine gefährliche Gratwanderung an der Grenze der Legalität wagten jene Mutigen, die in der Sowjetunion versuchten, verbotene Radiosender aus dem westlichen Ausland zu empfangen. Westliche Radiostationen wie Radio Free Europe/Radio Liberty oder BBC hatten sich darauf spezialisiert, Sendungen in die Sowjetunion auszustrahlen und wurden trotz des quälenden Rauschens oder einer Vielzahl an Unterbrechungen durch die staatlich eingesetzten Störsender gehört. Neben Nachrichtensendungen in russischer Sprache und Englischunterricht war es vor allem die westliche Populärmusik wie Jazz oder Swing, die den Hörer∙innen in der Sowjetunion ein „anderes“ Lebensgefühl vermittelte und die „Feindsender“ überaus attraktiv machte.

Musik auf Knochen und Lungen

Das Ohr an den Radioempfänger zu halten bedeutete recht häufig, aber nicht zwangsläufig den Weg in die Dissidenz. Der einmal eingeschlagene Weg konnte ganz ohne politische Ambitionen auf dem örtlichen Schwarzmarkt enden. Denn dort wurden am Rande des Gaunermilieus illegale Schallplatten vertrieben. Es waren Röntgenbilder, die sich für die Platten-Herstellung in improvisierten Underground-Tonstudios besonders gut eigneten. Bis Kassetten und Tonbandgeräte die aus der Not geborenen Kuriositäten ablösten, landeten auf dem Plattenteller sowjetischer Tanzbegeisterter und Chansonverliebter daher häufig illegale Platten , etwa mit Rippenmotiv, auf dem das eine oder andere Lungenödem zu sehen war. Später in den 1970 und 1980er Jahren waren es – je nach Vorliebe – sowohl die kratzigen Stimmen russischer Bardensänger als auch die Gitarrenklänge der heimischen Rockmusik, die die sowjetische Jugend aufwirbelten und die in der Perestroika ihre Hörerschaft zum Umbruch aufriefen.

Underground-Literatur

Auch in der Literatur und Kunst beschränkten sich Inspirationen zu Eigen-Sinn und Anders-Sein keineswegs auf westliche Vorbilder. Um dem engen Korsett des sozialistischen Realismus zu entfliehen wandte sich die sowjetische Bohème bereits Ende der 1950er Jahre der Literatur der Jahrhundertwende oder den utopischen Experimenten der russischen Avantgarde  vom Anfang des 20. Jahrhunderts zu. Mit Hilfe selbst hergestellter Bücher, die an Freund∙innen und Bekannte weitergereicht wurden, entwickelten findige Intellektuelle zu Beginn der 1960er Jahre den illegalen Selbstverlag (Samisdat ) und etablierten Schritt für Schritt eine inoffizielle Alternative zum staatlichen Verlagswesen (Gosisdat). An den Anfängen des Phänomens Samisdat stand nicht etwa die Verbreitung brisanter politischer Informationen zu Menschenrechtsverletzungen, sondern das Schreiben und die Lektüre von Gedichten und Erzählungen, ihre Vervielfältigung und Weitergabe. Die Schreibmaschine  nahm in diesem Prozess eine zentrale Rolle ein. Einzelne Liebhaberstücke der Underground-Literatur  wurden nach dem Abtippen eigenhändig gebunden oder künstlerisch gestaltet. Ende der 1970er Jahre versuchten junge Schriftsteller∙innen mit der Herausgabe des Literaturalmanachs MetrOpol  alternative Literatur auch offiziell zu etablieren. Sie scheiterten.

Kunst und Musik im Underground

Der gesamte Kunst- und Kulturbetrieb in der Sowjetunion war staatlich organisiert. Wer offiziell einen künstlerischen Beruf ausüben wollte, musste Mitglied im Künstlerverband sein. Die Mitgliedschaft war nicht nur für die Vergabe von Aufträgen Voraussetzung. Auch der Bezug von Künstlerbedarf und der Erhalt von Ateliers und Werk- und Proberäumen war daran gekoppelt. Um aufgenommen zu werden, mussten die Künstler∙innen eine Ausbildung absolviert haben und sich verpflichten, den Richtlinien des Sozialistischen Realismus  zu folgen. Das entzog z. B. der abstrakten Kunst ihre Existenzberechtigung, wenngleich die Grenzen dessen, was erlaubt war, im Verlauf der 1950er bis 1980er Jahre variierten.

Gratwanderung an der Grenze des Legalen

Weltweit gehört es für die meisten Künstler∙innen zu ihrem künstlerischen Selbstverständnis, die eigenen Werke einem Publikum zu präsentieren und nicht nur für die Schublade oder im stillen Kämmerlein zu produzieren. In der Sowjetunion durften nur offiziell geförderte Künstler∙innen ihre Kunstwerke in Galerien ausstellen oder auf staatlich organisierten Ausstellungen und Messen zeigen. Allen anderen blieb diese Möglichkeit verwehrt, da ein freier Kunstmarkt, der sich nach Angebot und Nachfrage richtete, nicht existierte. Nonkonformistische Künstler∙innen suchten daher nach alternativen Wegen, um die offiziellen Vorgaben zu umschiffen und dennoch künstlerisch aktiv zu sein. Oft agierten sie zwischen der offiziellen und der inoffiziellen Sphäre. So übernahmen sie staatliche Aufträge wie die Illustration von Kinderbüchern und schufen in ihrer Freizeit abstrakte Werke oder Konzeptkunst, die nur Gleichgesinnte zu Gesicht bekamen.

Ausstellungen in Wohnungen und Parks

Bereits in den 1950er Jahren präsentierten einige Künstler∙innen ihre Werke in selbst organisierten Wohnungsausstellungen im Moskauer Vorort Lianosowo. In den 1970 und 1980er Jahren wurden diese Praktiken der Selbstorganisation professionalisiert: Künstler∙innen und Kunstenthusiast∙innen gestalteten leerstehende Wohnungen zu temporären Ausstellungsflächen um, nutzten Freiluftflächen und Parks für illegale Gruppenausstellungen oder Happenings. Sie verteilten handgedruckte Einladungskarten, initiierten Underground-Galerien, stellten Künstlerbücher  zusammen oder dokumentierten darin ihre Aktivitäten. Auch im Kunstschaffen wurden die Grenzen immer stärker gesprengt: Malerei, Poesie und Konzeptkunst wurden oftmals miteinander verbunden und Kunst an Orten  umgesetzt, die dafür offiziell nicht vorgesehen waren.

Informelle Kunstszenen

Während emigrierte Künstler∙​​innen im Westen eine Schlüsselposition in der Verbreitung inoffizieller Kunst aus der Sowjetunion einnahmen, ließen sich die in der Heimat verbliebenen alternativen Künstler∙innen auch von gezielten Einschränkungen und Repressionen nicht stoppen: Sie setzten ihre Bestrebungen, ihren eigenen Kunst- und Lebensstil durchzusetzen und „andere Kunst“ sichtbar zu machen, unermüdlich fort. Vor allem in den 1980er Jahren nutzten sie verstärkt lokale Handlungsspielräume, um in regionalen Kulturhäusern ausstellen zu können. Die Mitstreiter der „Gesellschaft für experimentelle angewandte Kunst“ gingen sogar noch einen Schritt weiter und versuchten, zu Beginn der 1980er Jahre einen alternativen Künstlerverband  zu gründen. Auch wenn ihr Versuch, diesen bei den staatlichen Behörden zu registrieren, erfolglos blieb, waren über mehrere Jahrzehnte hinweg in Moskau, Leningrad und anderen Städten lebendige informelle Kunstszenen fernab des staatlichen Kulturbetriebs entstanden.

Wohnungskonzerte und Russki Rock

Auch alternativen Musiker∙​​innen und den daraus entstehenden Jugendsubkulturen gelang es immer öfter, staatliche Strukturen für eigene Zwecke zu nutzen und ihren eigenen Lebensstil zu etablieren. Es wurde deutlich, dass der Staat Einflüsse wie die Hippie-Bewegung, westliche Rock- und Punkmusik trotz des Eisernen Vorhangs nicht vollständig würde zurückdrängen können. Mit der Gründung von Kultureinrichtungen wie dem Leningrader Rock-Klub  ging er deshalb einen Schritt auf die jüngere Generation zu. In sowjetischen Hinterhöfen und Heizungskellern wurden nicht nur die Beatles gehört und handgemachte Musikzeitschriften förmlich zerlesen, sondern es entwickelte sich das Genre des Russischen Rocks. Mit Gruppen wie Kino  oder Aquarium  schafften es einzelne Jugendhelden auch schon vor der Perestroika auf die offiziellen Bühnen. Parallel dazu wirkten Kwartirniki – Wohnungskonzerte – als die eigentlichen magischen Anziehungspunkte innerhalb der überschaubaren Szenen.

Orte der Bestrafung

Wenn man in der Sowjetunion die staatliche Politik in Frage stellte, waren Konsequenzen fast unvermeidlich. Bestraft zu werden bedeutete in der Sowjetunion von einzelnen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen oder aber vorübergehend isoliert und in Gewahrsam genommen zu werden.

Verlust des Arbeitsplatzes

Ersteres konnte „schlicht“ den Verlust des Arbeitsplatzes, den Ausschluss aus der Schule oder aus Berufsverbänden wie dem Künstler- oder Schriftstellerverband bedeuten. Im zweiten Fall ging einer Verfolgung nicht nur ein Verwaltungsakt, sondern ein juristisches Strafverfahren voraus. Der Ort und der Grad der Bestrafung hingen dabei davon ab, wie die Staatsmacht und die Gesetzgebung das „Gefährdungspotential“ des Verurteilten einschätzte: Politische Motive wie die sogenannte „antisowjetische Agitation und Propaganda“ galten als „besonders gefährliches Staatsverbrechen“ und wogen stärker als kriminelle Straftaten, wie etwa Gewaltverbrechen.

Verbannung, Haft und Zwangsarbeit

Die Resozialisierung von Straftäter​​∙innen war in der Sowjetunion generell darauf gerichtet, über das Instrument der (Zwangs-)Arbeit eine Veränderung des Verhaltens zu erwirken: Manche mussten einen Zwangseinsatz in Betrieben leisten, andere wurden in die Verbannung verurteilt. Verbannung bedeutete die (zeitweise) Verlegung des Wohnsitzes an einen Ort, an dem Verurteilte fernab ihres üblichen Umfelds lebten. Sie unterlagen der Meldepflicht und die Behörden beobachteten sie, dennoch konnten sie ihren Alltag in bestimmtem Maße eigenständig gestalten. Das war jedoch nicht der Fall bei einer Haftstrafe in einem Zwangsarbeitslager (Arbeitsbesserungskolonie) oder Gefängnis. Gefangene durften die Hafteinrichtungen nicht verlassen.

Im Straflager wohnten sie zusammen mit anderen Häftlingen  in Baracken und mussten oft unter sehr primitiven Arbeitsbedingungen Zwangsarbeit leisten. Je nach Standort konnte diese Arbeit körperlich sehr anspruchsvoll sein (z. B. Holzfällen, Verladung von Rohstoffen) oder aber die recht monotone Herstellung von Gebrauchsgegenständen in einer vorgegebenen Stückzahl bedeuten (z. B. Tischlerei- oder Näharbeiten, Lötarbeiten zur Herstellung elektrischer Geräte). Nur in bestimmten zeitlichen Abständen und bei guter Führung durften Häftlinge von engsten Verwandten Besuch oder Pakete erhalten. Aus politischen Motiven verurteilte Gefangene wurden ab 1960 in einem Straflager in Mordwinien – Dubrawlag – inhaftiert und seit 1972 zusätzlich in einem Lagerkomplex im Permer Gebiet, der aus drei Abteilungen bestand, darunter dem Lager Perm-36 . Verstießen Gefangene mehrmals gegen die dort geltenden Regeln, wurden sie in ein Gefängnis überstellt. Dort waren sie noch stärker isoliert. Das Wladimirer Gefängnis verfügte über einen speziellen Zellentrakt für aus politischen Motiven verurteilte Gefangene.

Psychiatrie und Exil

Eine spezifische Form der Bestrafung stellte die Zwangseinweisung in ein psychiatrisches Sonderkrankenhaus dar. Dort konnte kaum überprüft werden, ob die Rechte der Patient∙innen eingehalten wurden oder eine willkürliche Behandlung etwa mit Medikamenten erfolgte. Auch wurden Andersdenkende in seltenen Fällen nicht nur vorübergehend von der sowjetischen Gesellschaft ausgeschlossen, sondern des Landes verwiesen : Wurde ihnen die sowjetische Staatsbürgerschaft entzogen, mussten sie ausreisen und eine Rückkehr aus dem Exil in ihr Heimatland war für immer verwehrt. Doch auch wenn Andersdenkende eine Emigration auf Antrag hin freiwillig erwirkten: Das Verlassen der Sowjetunion war stets mit ambivalenten Gefühlen  verbunden. Einerseits ersehnten einzelne Dissident∙innen, darunter vor allem sowjetisch-jüdische Auswanderer , die Ausreise und verbanden damit große Erwartungen auf ein Leben in Freiheit. Auf der anderen Seite fuhren sie in die Ungewissheit und ließen ihre Freund​​∙innen und Verwandten zurück. Die Aussicht, der Eiserne Vorhang könne fallen und die Sowjetunion würde untergehen , war bis zuletzt nur für die wenigsten Regimekritiker∙innen denkbar.

Text: Manuela Putz 
Archivrecherche: Alesia Kananchuk und Manuela Putz
Veröffentlicht: 14. Dezember 2021