Ihr echter Name ist Anna Tarschis. Die spätere „Primadonna der Avantgarde“2 kommt am 25. Juni 1942 in Ejsk zur Welt, einem Provinzstädtchen am Asowschen Meer, wenige Wochen vor der Besetzung der Stadt durch deutsche Truppen. Doch an die Schrecken des Krieges in ihrem ersten Lebensjahr konnte sich Anna, die väterlicherseits Jüdin war, nicht erinnern. Ihre Kindheit in Ejsk hat sie in der Erinnerung zum Paradies verklärt. In dem gab es noch keinen Staat, der später rücksichtslos in ihr Leben hereinbrach, keine ideologischen Verbote, keine geschlossenen Grenzen. Zu dieser Zeit konnte Anna natürlich noch nicht ahnen, dass das Haus ihrer Großmutter in Ejsk, das sie 1974 mit ihrem Mann, dem Avantgardekünstler Sergej Sigej bezog, in den dumpfen Jahren der Stagnation unter Breshnew ein Zentrum der sowjetischen Experimentalkunst sein und Künstler und Dichter aus Moskau und Leningrad beziehungsweise nach der Perestroika überhaupt aus aller Welt anziehen würde. Sie wusste auch nicht, dass sie ein halbes Jahrhundert später in Deutschland landen und abermals am Meer leben würde – diesmal an der Ostsee.
Noch dauert die Kindheit fort. Das Holz-Stereoskop aus Deutschland mit den zwei Linsen und dem Bild eines Mannes in einem Schweizer Wald ist ihr Kino und Reisefilmclub in einem; ihre Puppen sind Theaterschauspielerinnen; ihre kindlichen Zeichnungen – eine Möglichkeit, die Welt so darzustellen, wie sie will, und nicht, wie sie muss; der Garten, die Sonne und das Meer sind ihr höchstpersönlicher Freiraum. Doch diese kindliche Welt geht bald unter – viel schneller, als die Kindheit zu Ende geht. Und das Meer wird gegen die trostlosen Straßen von Swerdlowsk eingetauscht, wo Annas Vater arbeitet und 1946 mitsamt seiner Familie hinzieht.
Land Art
Viele sowjetische Kinder spielten Sekretiki (dt. Geheimnisse). An einem verborgenen Ort grub man eine Mulde, in die man einen „Schatz“ legte – ein buntes Bonbonpapier, eine alte Münze oder einfach eine Blüte. Diesen Schatz deckte man mit einer Glasscheibe ab und grub ihn zu, den Ort hielt man geheim. Man verriet ihn nur den besten Freunden: Für sie wischte man die Erde vom Glas, sodass die Eingeweihten diese Kunst im Untergrund bewundern konnten.
In ihren Memoiren transformiert Anna dieses Kinderspiel halb im Scherz zu einem freien schöpferischen Akt – zu konzeptueller Land Art. Später verleiht die Idee der Transformation oder des Transponierens der Samisdat -Zeitschrift Transponans ihren Titel, die sie gemeinsam mit ihrem Mann Sergej Sigej herausgibt. Swerdlowsk zieht Anna tief ins sowjetische Leben hinein – zunächst ein Leben zu viert in einem Zimmer im fabrikeigenen Wohnheim, später in einem Haus der Fabrik Uralmasch. Dort gab es je eine Toilette und eine Küche pro Stockwerk. Die Schule und die Musikschule (Anna spielt Klavier) versuchen erfolglos, das freiheitsliebende kleine Mädchen zu Disziplin und Kollektivismus zu erziehen. Während Ejsk die Welt ihrer Großmutter mütterlicherseits war, war Swerdlowsk die Welt ihres Vaters, Alexander Abramowitsch Tarschis, Bauingenieur bei Uralmasch.
Annas Erinnerungen an Swerdlowsk sind von einer starken Aversion gegen diese sowjetische Welt und ihre Ideologie geprägt. Ihr Vater findet einmal zwei Kärtchen in ihrer Jackentasche. Auf einem steht: „Lenin ist doof“, auf der anderen: „Stalin ist doof“. „Was ist das bitte?!“, fragt der Vater. „Wäre ich älter gewesen, hätte ich gesagt: ‘Das ist Konzeptualismus, Papa. Swerdlowsker Konzeptualismus, ein Vorläufer des Moskauer’“, erinnert sich Anna.
Den Verlust des Ejsker Paradieses, in das sie nur in den Sommerferien zurückkehrte, verkraftet Anna schwer. Aber ausgerechnet in Ejst lernt sie im Sommer 1966 den 19-jährigen Studenten des Taganroger Pädagogischen Instituts Sergej Sigow kennen, den sie einen Monat später heiratet. Sergej hatte schon in früher Jugend seinen Freiraum gefunden – das futuristische Experiment vom Beginn des 20. Jahrhunderts, das zwar von der Staatsmacht nicht goutiert wurde, aber zum Teil unter dem Schutzschirm Wladimir Majakowskis stand, des „besten Dichters unserer Zeit“, wie Stalin ihn genannt hatte. Schon als Schüler gründete Sergej in Wologda eine Gruppe von Anarcho-Futuristen namens Buduschtschel und gab selbstgemachte Bücher heraus. Von seinen zahlreichen Pseudonymen wählt er schließlich die Variante Sigej. Mit Sigejsk statt mit Ejsk wird fünfzehn Jahre später Nikolaj Chardschijew, ein berühmter Erforscher der russischen Avantgarde, Briefe an ihn adressieren – und sie kommen an!
Sergej und Anna stehen lange, schwierige, aber überaus produktive Jahre des Zusammenlebens und der gemeinsamen Kreativität bevor. Doch gleich nach der Hochzeit ziehen sie vorübergehend in verschiedene Richtungen: Sergej setzt sein Studium in Taganrog fort, das er im Übrigen zum Entsetzen der Eltern bald abbricht; Anna geht nach Leningrad, wo sie seit einem Jahr am Institut für Theater, Musik und Film Bühnenbild studiert.
Geste der Macht
Am Institut kämpft Anna Tarschis vor allem gegen Langeweile und klammert sich an jeden verfügbaren Schnipsel kreativer Fantasie. Sie schwänzt Vorlesungen und besucht täglich die Proben zu einem Stück nach Motiven des polnischen postmodernen Dramatikers Sławomir Mrożek auf der Probebühne des studentischen Theaters. Der Minimalismus des Stücks hat es ihr angetan: „Zwei Schauspieler, zwei Stühle und eine Hand aus Furnier, die die halbe Bühne verdeckt.“ Die Schauspieler des absurden Stücks spielen zwei einander frappierend ähnliche Menschen, die sich in Bürokratensprache unterhalten. Sie sind von zu Hause weggegangen, etwas ist jedoch schiefgelaufen, und sie finden sich eingesperrt in einem Zimmer wieder. Durch die Zimmertür dringt hin und wieder eine überdimensional große Hand herein, die lautlos auf bestimmte Kleidungsstücke zeigt, die sie sofort gehorsam ausziehen, bis sie nur mehr in Unterhosen dastehen. Diese „Geste der Macht“ spiegelt sich laut Anna in den 1980ern in ihren Gestischen Gedichten.
Annas Studium in Leningrad fällt mit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in eine Zeit, in der die Hoffnung auf Veränderungen im Land von einer wachsenden Konfrontation zwischen der Staatsmacht und der Intelligenzija abgelöst wurde. 1964 wird Joseph Brodsky wegen „Schmarotzertum “ zu fünf Jahren Verbannung verurteilt. Ein Jahr später werden gegen Andrej Sinjawski und Juli Daniel Freiheitsstrafen von sieben und fünf Jahren im strengen Vollzug verhängt, weil sie im Ausland Werke publiziert haben, die „die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen der Sowjetunion diffamieren”. 1968 rollen sowjetische Panzer in Prag ein, und dann sind die letzten Spuren des freien Künstlerlebens der Tauwetterzeit verschwunden.
Für die Staatsmacht waren Künstler und Dichter lästige, surrende Insekten, die verscheucht und manchmal am besten auch erschlagen werden sollten. Die Nonkonformisten der 1960er Jahre hatten zwei Möglichkeiten: zivilen Widerstand oder freies Schöpfertum. Den ersteren Weg nahmen die Dichter, die sich in Moskau beim Majakowski-Denkmal zu öffentlichen Lesungen versammelten oder, wie Natalja Gorbanewskaja , ihren Protest auf Kundgebungen und in ihren Gedichten unverblümt zum Ausdruck brachten. Die Staatsmacht reagierte darauf mit brutalen Repressionen.
Anna Tarschis entscheidet sich für freie Kunst im Untergrund. Ihr Protest ist ästhetisch, aber nicht minder radikal. Unter dem Eindruck der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings schreibt sie das Stück Petuchi (dt. Hähne), dessen Handlung wie bei Orwell (von dem Anna damals noch nie gehört hatte) auf einem Bauernhof spielt. Die Hähne, die Herolde der Macht, kommandieren: „Töhötet die Fliegen! Sie verbreiten Seuchen und Informationen!“ Die Tiere gehorchen ihnen brav, und die Hunde, die für Ordnung sorgen, bellen zustimmend: „Die Disziplin der Hähne ist hervorragend. Hervorragend.“
Zu dieser Zeit studiert Anna nicht mehr in Leningrad. Ihre Mutter, die viele Jahre lang das Samisdat-Familienmagazin Sa mir w semje (dt. Für Frieden in der Familie) herausgab, notiert bitter: „Anna wurde aus dem Institut geworfen. Ja. Weil sie NICHT RICHTIG studierte.“ Anna bedauert den Ausschluss nicht: „Das Leningrader Leben war seicht. Die Newa kein Meer. Und das Baltische Meer hatte keine Tiefe, nur eine Oberfläche.“3 Weil sie in Leningrad keine Gleichgesinnten findet, kehrt sie zurück zu den Eltern nach Swerdlowsk und nimmt wieder Kontakt zu jenen auf, die am Anfang ihres künstlerischen Weges standen – zu den Swerdlowsker Künstlern der sogenannten Uktusser Schule. Auch als sie Swerdlowsk wieder verlässt und zu Sergejs Eltern zieht, geht die Zusammenarbeit weiter, wenn auch auf Distanz – mittels Samisdat.
Gleich nach der Hochzeit zieht Anna nach Leningrad, wo sie seit einem Jahr am Institut für Theater, Musik und Film Regie studiert / Foto © Archiv FSO Für die Staatsmacht waren Künstler und Dichter lästige, surrende Insekten, die verscheucht und manchmal am bestern auch erschlagen werden sollten. Anna entscheidet sich deshalb für freie Kunst im Untergrund / Foto: Umschlag der Samisdat-Ausgabe des Buches von Anna Tarschis Ich verliere die menschliche Gestalt (1968) © Archiv FSO Foto: Umschlag der Samisdat-Ausgabe des Buches von Anna Tarschis Proto-dramen © Archiv FSO
Das Wort „wir“
Mitte der 1960er formiert sich in Swerdlowsk rund um das Künstlerstudio beim Kulturhaus der Eisenbahner ein informeller Künstlerverein namens Uktusser Schule. Das Studio wird zum Treffpunkt von progressiver offizieller Kunst und linker Avantgarde, zu der sich auch Anna Tarschis hingezogen fühlt. Uktus heißt ein Vorort von Swerdlowsk und ein Bergmassiv, auf dem damals eine der größten Skisprungschanzen der UdSSR gebaut wird. Die Künstler der Uktusser Schule – Jewgeni Arbenew, Felix Wolossenkow, Waleri Djatschenko und andere – wollten sich wie die Skispringer mit einem Ruck von jener Plattform hochkatapultieren, die ihnen die moderne sowjetische Kunst bot: hoch hinauf zu einem grenzenlosen künstlerischen Experiment. Den Uktussern schloss sich auch Anna Tarschis an. Sie gab die Samisdat-Zeitschrift Nomer (dt. Nummer) heraus, die jeweils in einer Auflage von einem Stück erschien.
Nach ihrem Umzug nach Leningrad stellt Anna die Arbeit an der Zeitschrift ein, nimmt sie aber drei Jahre später wieder auf, als Sergej und sie zusammenziehen. Sie wechseln häufig Wohnort und Arbeitsplatz, versuchen eine Möglichkeit zu finden, mit den „ringsum geltenden Gesetzen“ zu leben – ohne Erfolg. Taganrog, Rostow, Batajsk – und ab 1974 wieder Ejsk. Ein Fixpunkt bleibt die Zeitschrift Nomer, die sie bis 1974 publizieren – insgesamt 35 Nummern. Forscher des Swerdlowsker Undergrounds haben in der Zeitschrift Elemente der Konzeptkunst festgestellt.5
Jener Swerdlowsker Konzeptualismus, den Anna bezüglich ihrer Kinderspiele erwähnte, erfährt jetzt seine unmittelbare Verkörperung. Die Vertreter der Uktusser Schule treffen sich jetzt manchmal auf „Kongressen“ (eigentlich private Treffen), wie zum Beispiel im September 1972 in Koktebel. Später schreibt Anna über diese Gruppe: „Das Wort ‘Wir’ … war klar und deutlich, stand aber zu niemandem im Gegensatz. Ein ‘sie’ gab es nicht. Das ‘Wir’ stellte sich nicht gegen ‘jemanden’, sondern gegen ‘etwas’ – die sowjetische Pest. Wir standen ohne Waffen da und ohne Flüche auf den Lippen, denn weder Waffen (weiße und rote ), noch Gefluche (Trotzki, Raskolnikow)6 hatten irgendetwas gebracht, und wir versuchten zu begreifen, warum. Warum gab es von uns so viele und warum waren wir so rechtlos?“.7
Die Beweise dieser Rechtlosigkeit ließen nicht lang auf sich warten. Sofort nach dem Umzug nach Ejsk führt der KGB bei Anna und Sergej eine Hausdurchsuchung durch und nimmt die ersten 18 Ausgaben der Zeitschrift Nomer mit – um sie „zu lesen“. Die Zeitschriften gehen für immer verloren, ihr Inhalt lässt sich nur aus Sigejs Notizen rekonstruieren. Für mehrere Jahre zerfällt die Gemeinschaft von „uns“ unter dem Druck der Staatsmacht, um in neuer Form wiederzukehren – als Gruppe der Transfuristen mit der Samisdat-Zeitschrift Transponans, dem bekanntesten Produkt der „Ejsker Einsiedler“, wie der Dichter Sergej Birjukow Anna und Sergej später betitelt.8
Zwischen 1965 und 1974 geben Anna und Sergej die Samisdat-Zeitschrift Nomer heraus, die jeweils in einer Auflage von einem Stück erschien / Foto © Archiv FSO In der Zeitschrift Nomer wurden sowohl Zeichnungen als auch literarische Texte veröffentlicht / Foto: Zeitschrift Nomer, Sonderausgabe Uktusskaja schkola, 1969 © Archiv FSO In Nomer erfährt der Swerdlowsker Konzeptualismus seine unmittelbare Verkörperung. Bis 1974 wurden insgesamt 35 Ausgaben realisiert / Foto: Zeitschrift Nomer, 1971 © Archiv FSO
Extravaganzen einer höheren Tochter
1978 wiederholt Sergej Sigej Annas Experiment und schreibt sich zum Fernstudium an dem Institut ein, aus dem seine Frau zehn Jahre zuvor herausgeworfen wurde. Leningrad gilt zu der Zeit als Kulturhauptstadt des Landes. Die dortige inoffizielle Literaturszene mausert sich bis zum Ende der 1970er Jahre zu einem vollwertigen kulturellen Leben mit eigenen Underground-Zeitschriften (Tschassy, 37, Sewernaja potschta u. a.), Literaturzirkeln und sogar einem Literaturpreis (dem Andrej-Bely-Preis). Sigejs Sozialisierung in Leningrad verläuft erfolgreicher als die von Anna: Er studiert das Theater des russischen Futurismus und erhält mit seinem Studentenausweis einer Leningrader Hochschule Zugang in die Archive. Sergej lernt viele Künstler und Dichter kennen und stellt ihnen das neue Projekt vor, das er zusammen mit Anna in Ejsk begonnen hat: 1979 erscheint die erste Ausgabe der Samisdat-Zeitschrift für Theorie und Praxis Transponans.
Transponans wurde in Ejsk in einer Auflage von fünf Stück produziert und von Sergej nach Leningrad gebracht. Für viele Leningrader Autoren, die sich als Petersburger fühlten und mit ihrem Werk an die Hochkultur des russischen Modernismus zu Beginn des 20. Jahrhundert anknüpfen wollten, waren Anna und Sergej provinzielle Emporkömmlinge, die mit ihrem ästhetischen Radikalismus Experimente des russischen Futurismus wiederholten, der seine Aktualität längst eingebüßt hatte. „Retrofuturistisches Archiv“ nannte ein Kritiker in einer Rezension in der Zeitschrift Tschassy die Transponans.9 Für Fans und Forscher der experimentellen Kunst jedoch wurde die „provinzielle“ Transponans zur wichtigsten Plattform, auf der sie mit vereinten Kräften die Avantgarde reaktualisierten.
Die Beziehung zwischen den beiden Herausgebern und Eheleuten lässt sich als fruchtbare Konkurrenz beschreiben. Anna war eifersüchtig auf die „Gastspiele” ihres Mannes in der Großstadt. Während er mindestens zweimal im Jahr für längere Zeit nach Leningrad fuhr, um Prüfungen abzulegen und Lehrveranstaltungen zu besuchen, musste sie die beiden Kinder erziehen, den Haushalt führen und sich durch ihre Arbeit als Musiklehrerin quälen. Anna fehlte bei der ersten Lesung von Transponans-Autoren am 21. Februar 1983. Auch inhaltlich gab es Zwistigkeiten: Sergej wollte eine neofuturistische Ästhetik beibehalten, während Anna mit ihrem angeborenen Nonkonformismus und ihren sprudelnden Ideen jeden Rahmen sprengte. Allerdings wurden gerade in diesen Konflikten neue Formen geboren. Ihre Diskussionen trugen die Redakteure direkt auf den Seiten der Zeitschrift aus, in aller Öffentlichkeit, untereinander genauso wie mit anderen Autoren, zu denen mit der Zeit praktisch alle führenden Kräfte der sowjetischen Experimentalkunst gehörten, auch Moskauer: Andrej Monastyrski, Dimitri Prigow , Genrich Sapgir und viele andere. Rund um die Zeitschrift entsteht die Gruppe der Transpoeten, die sich auch Transfuristen nennt: Abgesehen von Anna und Sergej schließen sich der Gruppe Boris Konstriktor und sein Cousin A. Nik an, der in Prag wohnt, eine Zeit lang auch der Dichter und Underground-Forscher Wladimir Erl. In der Zeitschrift veröffentlicht Anna nicht nur literarisch-künstlerische, sondern auch theoretische Texte, Rezensionen und Reviews. 1985 entwickelt sie für die Transponans eine raffinierte neue Form, die sie Ry-Struktur nennt.
Das Pseudonym Ry Nikonowa ist drei Jahre zuvor, 1982, auf den Seiten der Transponans entstanden. Nikonowa war der Name von Annas Großmutter in Ejsk. Und was bedeutet Ry? Vielleicht ist das eine Anspielung auf Wladimir Majakowski, der 1913 schrieb: „Ich öffne euch / mit Worten / so einfachen wie einem Muhen / unsere neuen Seelen“. Ry Nikonowa ist in ihrem Werk radikaler und sucht nach neuen Formen – nicht nach einfachem Muhen (russ. MYtschanije) sondern nach einem Knurren (russ. RYtschanije). Zu muhen weigert sich Nikonowa strikt.
1978 schreibt sich Sergej Sigej zum Fernstudium an dem Institut ein, aus dem seine Frau zehn Jahre zuvor herausgeworfen wurde. Er lernt dort viele Künstler und Dichter kennen / Foto: Erster Auftritt von Trans-Dichtern in Leningrad, 1983. Boris Konstriktor, Wladimir Erl, Sergej Sigej © Wladimir Ioselson, Archiv FSO Sergej stellt in Leningrad das neue Projekt vor, das er zusammen mit Anna in Ejsk begonnen hat: 1979 erscheint die erste Ausgabe der Samisdat-Zeitschrift für Theorie und Praxis Transponans / Foto: Umschlag der Zeitschrift Transponans, Nr. 3, 1979 © Archiv FSO / Project for the Study of Dissidence and Samizdat (Toronto) Für Fans und Forscher der experimentellen Kunst wurde Transponans zur wichtigsten Plattform, auf der sie mit vereinten Kräften die Avantgarde reaktualisierten / Foto: Titelseite der Zeitschrift Transponans, Nr. 25, 1984 © Archiv FSO / Project for the Study of Dissidence and Samizdat (Toronto) Zu den Autoren gehörten mit der Zeit praktisch alle führenden Kräfte der sowjetischen Experimentalkunst: Dimitri Prigow , Genrich Sapgir, Andrej Monastyrski und viele andere / Foto © Archiv FSO 1985 entwickelt Anna für die Transponans eine raffinierte neue Form, die sie Ry-Struktur nennt / Foto: Zeitschrift Transponans, Nr. 32/33, 1986 © Archiv FSO Die Beziehung zwischen den beiden Herausgebern und Eheleuten lässt sich als fruchtbare Konkurrenz beschreiben / Foto: Auszug aus dem Kleinen Journal für sich selbst © Archiv FSO
Worte müssen ohne Wörter sein
In ihrem theoretischen und praktischen Kunstschaffen verlässt Ry Nikonowa (so können wir sie jetzt nennen) auf den ersten Blick unsere gewohnten literarischen Grenzen. Aber was ist überhaupt Literatur? Texte aus Buchstaben, und wenn sie klingen – aus Lauten. Ry Nikonowa behauptet: Der Kern der Dichtung sind nicht die Buchstaben, sondern der Raum dazwischen. Mit Buchstaben – aber nicht nur damit – organisiert der Dichter diesen Raum, in der Rolle eines Schöpfers, der eine Welt aus nichts, aus Vakuum erzeugt. Daraus entsteht das Genre der „Vakuumlyrik“. Eine Bewegung, die Dynamik in eine statische Leere hineinbringt, ist eine Geste. Stoff für Literatur und Anlass zu einer Geste kann alles sein, da das Potenzial des Vakuums unbegrenzt ist.
1983 tritt Ry Nikonowa im Klub-81 auf, dem ersten staatlich genehmigten Leningrader Verband der inoffiziellen Literaten. Mit der Zustimmung zur Gründung des Klubs hoffen die Organe der Staatssicherheit, alle verdächtigen Personen unter Kontrolle zu haben. Die „verdächtigen Personen“ hoffen ihrerseits, endlich ein Stimmrecht zu bekommen. Nikonowa erhebt ihre Stimme schweigend, mit einer formalisierten Geste: Mit ihrer Rasierklinge, dem Bogen, spielt sie stumm auf ihrer Harfe, indem sie die weißen Papierstreifen der Reihe nach durchschneidet: „Schlag! Schnitt! Stille der Eleganz! Auf dem weißen, leeren Papier ist überhaupt nichts zu sehen. Kein Textblut … Und leise, wie in der ganzen UdSSR, wo jeder in der Mitte zerschnitten wird: auf und ab, kreuz und quer.“10
Ein paar Jahre später beginnt im Land die Perestroika : Die Staatsmacht schafft es nicht mehr, den Geist, der aus der Flasche steigt, dorthin zurückzuzwingen. Die sowjetischen Schriftsteller haben nun die Möglichkeit, sich nicht nur untereinander und mit ihrem Publikum auszutauschen, sondern auch ins Ausland zu fahren. Ry Nikonowas und Sergej Sigejs Werke werden 1985 auf einer internationalen Ausstellung in Budapest gezeigt. Sie beginnen, sich mit Mail Art zu beschäftigen, und werden die ersten sowjetischen Mail Artists. 1989 veranstaltet Sergej in Ejsk die erste internationale Mail-Art-Ausstellung der Sowjetunion, und 1991 beginnt Ry Nikonowa die Herausgabe einer internationalen Zeitschrift für Mail Art und Vakuumlyrik: Double. Dieses Projekt ist ausschließlich ihres.
Vom Zerfall der Sowjetunion und dem Beginn demokratischer Umbildungen im Land erhoffte man sich den Anbruch einer neuen, besseren Epoche. Doch sehr bald wird Nikonowa und Sigej klar, dass die Macht nach dem Zerfall der Sowjetunion nur ihre Schale gewechselt und ihren repressiven Charakter beibehalten hat. Die kategorische Ablehnung des Regimes motivierte die Künstler zur Emigration. 1998 steigen sie in Sankt Petersburg auf eine Fähre, die nach Deutschland fährt und Nikonowa an das Philosophenschiff erinnert, das 1922 die besten Vertreter von Kunst und Kultur der damaligen Zeit aus Russland hinausschaffte.
In ihrem theoretischen und praktischen Kunstschaffen verlässt Ry Nikonowa unsere gewohnten literarischen Grenzen. Sie entwickelt das Genre der „Vakuumlyrik“. Eine Bewegung, die Dynamik in eine statische Leere hineinbringt, ist eine Geste / Foto: Performance von Ry Nikonowa, 1983 1983 tritt Ry Nikonowa im Klub-81 auf, dem ersten staatlich genehmigten Leningrader Verband der inoffiziellen Literaten / Foto: Klub-81 © Archiv FSO In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre beginnen Ry Nikonowa und Sergej Sigej sich mit Mail Art zu beschäftigen Sie werden die ersten sowjetischen Mail Artists / Foto: Samisdat-Ausgabe von Ry Nikonowa Mail Art, 1988 © Archiv FSO 1991 beginnt Ry Nikonowa die Herausgabe einer internationalen Zeitschrift für Mail Art und Vakuumlyrik, Double. Dieses Projekt ist ausschließlich ihres / Foto: Ausgaben der Zeitschrift Double © Archiv FSO Mit Beginn der Perestroika bekommen die Autoren die Möglichkeit, ins Ausland zu fahren und an internationalen Ausstellungen teilzunehmen / Foto: Faltblatt der Ausstellung Transpoesie in Leipzig 1989 © Archiv FSO
Auf zu neuen Ufern
Die 1990er Jahre waren für Nikonowa und Sigej nicht einfach. Zwar können sie durch den Wegfall der staatlichen Zensur endlich auftreten und publizieren, jedoch ist von den beiden Versionen des Konzeptualismus – dem Moskauer und dem Swerdlowsker – ersterer stärker gefragt. Auch die Kontakte nach Europa und in die USA werden intensiviert, doch wie schon früher profitiert wieder Sigej am meisten: Als Avantgarde-Forscher ist er im Ausland interessanter. Nikonowa ist immer noch an das Haus in Ejsk gebunden, und in den 1990er Jahren einen Haushalt zu führen, ist fast noch schwerer als in der Sowjetzeit. Außerdem interpretieren die Künstler, die durch die ständige Beobachtung vonseiten der staatlichen Sicherheitsorgane traumatisiert sind, jedes Ereignis in ihrem Leben als „Geste der staatlichen Hand“ (oft nicht grundlos).
Ende der 1990er war die Entscheidung getroffen: „Mir war nicht mehr schade um das Haus, in dem ich geboren wurde und so viel geweint habe, in dem so oft Bullen herumgetrampelt sind. Das alles, Ejsk mitsamt den Ejskern – ist nicht mehr meines. Sie brauchen mich nicht, und ich brauche sie nicht – es gibt niemanden, dem ich lebewohl sagen kann”12, schreibt Nikonowa später. Der Abschied von den Menschen erweist sich allerdings emotionaler als angenommen, und die Frage, wo und von wem ein Künstler gebraucht wird, als schwieriger.
Nikonowa und Sigej führen „hartnäckig emigrierende Werke (Gemälde, Zeichnungen, Samisdat-Literatur, die Privatbibliothek)“13 aus Russland aus. Diese bilden die Grundlage für ihr riesiges Archiv, das heute auf mehrere staatliche, universitäre und private Sammlungen verstreut ist. Im Westen gelingt ihnen vieles: eine Serie von Publikationen mit eigenen Aufsätzen und Texten der russischen Avantgarde im Madrider Verlag Ediciones del Hebreo Errante, eine Zusammenarbeit mit führenden Vertretern der Mail Art, unzählige kleine Publikationen … In Deutschland konnte Ry Nikonowa trotz einer schweren Krankheit ihr Archiv sortieren, und wenn sie auch ihre wichtigsten theoretischen Arbeiten nicht zu Ende bringen konnte – was aufgrund ihrer Beschaffenheit auch gar nicht möglich gewesen wäre –, so konnte sie sie doch für zukünftige Forschungen und Publikationen aufbereiten, wobei ihr Sergej tatkräftig half. Doch im Norden, in Kiel, fühlen sie sich genauso fremd wie im Süden, in Ejsk, und ihre radikale Experimentalkunst ist dort noch weniger gefragt als in Russland. Avantgarde setzt ihrem Wesen nach die Einsamkeit des Schöpfers voraus, der seiner Zeit voraus ist – das ist der Preis des konsequenten ästhetischen Nonkonformismus.
1998 steigen Ry Nikonowa und Sigej in Sankt Petersburg auf eine Fähre, die nach Deutschland fährt. Im Westen gelingt ihnen vieles: eine Serie von Publikationen mit eigenen Aufsätzen und Texten der russischen Avantgarde, eine Zusammenarbeit mit führenden Vertretern der Mail Art, unzählige kleine Publikationen / Foto: Ry Nikonowa und Sergej Sigej in Kiel © Lemmens, Archiv FSO Nikonowa und Sigej führen „hartnäckig emigrierende Werke (Gemälde, Zeichnungen, Samisdat-Literatur, die Privatbibliothek)“ aus Russland aus. Diese bilden die Grundlage für ihr riesiges Archiv, das heute auf mehrere staatliche, universitäre und private Sammlungen verstreut ist / Foto: Zimmer von Ry Nikonowa in Kiel, 2014 © Awgust Sigow Im Westen ist ihre radikale Experimentalkunst noch weniger gefragt als in Russland. DieAvantgarde setzt ihrem Wesen nach die Einsamkeit des Schöpfers voraus, der seiner Zeit voraus ist – das ist der Preis des konsequenten ästhetischen Nonkonformismus / Foto: Küche von Ry Nikonowa in Kiel, 2014 © Awgust Sigow
Ry Nikonowa und Sergej Sigej sterben 2014 im Abstand von nur wenigen Monaten: Ry am 10. März, Sergej, der ungeachtet seiner eigenen schweren Krankheit seine Frau bis zum Schluss aufopfernd gepflegt hat, am 21. September. Ihr Sohn August, der früher für die Transponans schrieb und heute in England lebt und arbeitet, lässt die Asche seiner Eltern auf einem schottischen Friedhof bestatten.
Hier und im Folgenden sind die Memoiren von Ry Nikonowa übersetzt nach: Ry Nikonova (2006): Intervaly myšlenija (iz memuarov), in: Russian Literature, LIX, 2006, II/III/IV. S. 507–530.
Konstriktor, B. (2014): Primadonna avangarda, in: Novoe literaturnoe obozrenie, 2014, № 6.
Anna-Ry Nikonova-Taršis (2015): Izbrannye brannye i membrannye fragmenty memuarov, in: K istorii neoficial’noj kul’tury i sovremennogo russkogo zarubež’ja: 1950–1990-e, Hrsg. Y. Valieva, Sankt Petersburg, S. 256.
Ry Nikonova (1995): Uktusskaja škola, in: Novoe literaturnoe obozrenie. 1995. № 16. S. 236.
Žumati T. (1999): «Uktusskaja škola» (1965–1974). K istorii ural’skogo andegraunda, in: Izvestija Ural’skogo gosudarstvennogo universiteta. Iskusstvovedenie. № 13. 1999. S. 126.
Gemeint sind die Ereignisse des russischen Bürgerkrieges nach der Oktoberrevolution 1917, in dem die Roten (Bolschewiki ) gegen die Weißen (vor allem Vertreter der Monarchie und Kräfte, die nach der Februarrevolution an die Macht gekommen sind) gekämpft haben, sowie der Riss in der bolschewistischen Partei in 1920–1930er Jahren, als Leo Trotzki und Fjodor Raskolnikow die Politik von Stalin kritisiert haben.
Anna-Ry Nikonova-Taršis. Izbrannye brannye i membrannye fragmenty memuarov … S. 516.
Birjukov S. Transpoėtičeskij vzlet, in: Transfurizm. Katalog k vystavke v Muzee nonkonformistskogo iskusstva (Art-centr «Puškinskaja-10») (23 dekabrja 2017 — 21 janvarja 2018), Sankt Petersburg, 2017. S. 265.
Fomin A., Čudinovskaja T. [Kobak A., Ostanin B.] (1985); Archiv retro-futurizma, in: Časy. 1985. № 4. S. 251–272.
Ry Nikonova (2006): Intervaly myšlenija (iz memuarov), in: Russian Literature, LIX, 2006, II/III/IV. S. 527.
Anna-Ry Nikonova-Taršis. Izbrannye brannye i membrannye fragmenty memuarov … S. 281.
Ibid.
Ibid.
Drehbuch und Text: Ilja Kukuj
Illustrationen: Anna Che
Animation: Philipp Yarin und Victoria Spiryagina
Übersetzung aus dem Russischen: Ruth Alternhofer
Veröffentlicht: 15. November 2022