Sie war eine Dichterin so groß wie Joseph Brodsky und eine Menschenrechtsaktivistin so unerschrocken wie Andrej Sacharow . Im Gegensatz zu Brodsky erhielt sie jedoch nicht den Nobelpreis für Literatur, im Gegensatz zu Sacharow auch nicht den Friedensnobelpreis. Mit ihrem Namen ist aber ein in der Sowjetunion einmaliges Ereignis verbunden: Am 25. August 1968 kommt sie mit sieben weiteren jungen Menschen auf den Roten Platz, um offen gegen das Regime zu demonstrieren – und gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch Panzer der Sowjetunion und anderer Länder des Warschauer Paktes .
1968 ist Gorbanewskaja 32 Jahre alt, sie wurde 1936 in Moskau geboren. Von ihrer Mutter – einer Moskauer Bibliothekarin – allein erzogen, wächst sie in ärmlichen Verhältnissen auf, in einem feuchten und dunklen Kellerraum, den ihre Familie mit der Großmutter, Nataljas Bruder und einer Adoptivschwester zu fünft bewohnt. Sie gehört zu einer Generation, die in der Stalin-Zeit sozialisiert wird. Doch Trost und Zuflucht vor Hunger und Armut findet sie nicht im Sozialismus, sondern in Büchern und in Gedichten, die sie bereits als Kind schreibt. Die Fratze des Sozialismus, den Alltag von Strafprozessen und Lagerhaft , wird sie später in ihrer Untergrundzeitung beschreiben.
Die Dichterin
1953, im Todesjahr Stalins , beginnt Natalja, an der Moskauer Universität Russisch zu studieren. Die Ära des Tauwetters bricht an: Terror, Willkür und Folter werden von Amnestien, Zensurlockerungen und neuen Freiheiten abgelöst. Doch Chruschtschows Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU, in der er Stalins Terror anprangert, überzeugt Natalja nicht. Für sie zeigt das Regime sein wahres Gesicht mit der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands im Oktober 1956. Ihre Gedichte, die sie auf der Wandzeitung des Instituts veröffentlicht, begeistern ihre Mitstudierenden – und handeln ihr scharfe Kritik ein, da sie oppositionell sind. Sie selbst betrachtet sich bereits Ende der 1950er Jahre als antisowjetisch.
1957 wirft die Moskauer Uni sie raus – angeblich wegen versäumter Veranstaltungen, faktisch wegen ihrer Freundschaft mit zwei Studenten, die nach den Ereignissen in Ungarn oppositionelle Flugblätter an der Universität verbreitet haben. Ihr bleibt nur ein Fernstudium in Leningrad, das sie 1964 abschließt. Noch während ihres Studiums kommt 1961 ihr erster Sohn Jaroslaw zur Welt, den sie allein erzieht, wie auch ihre Mutter sie alleine großgezogen hatte. Gorbanewskaja genießt die Freiheiten des Tauwetters: Tagsüber trifft sie sich mit Gleichgesinnten, veröffentlicht ihre Gedichte im Samisdat , freundet sich mit Joseph Brodsky an, verkehrt wie er mit der großen Dichterin Anna Achmatowa und korrespondiert mit Nadeshda Mandelstam. Sie liebt es, per Anhalter durch das Land bis ins Baltikum zu reisen. 1967 lässt sie sich taufen. Doch die Zeichen verdunkeln sich: Im Dezember 1963 wird Brodsky verhaftet; im Januar 1967 ihr Studienfreund und Mitstreiter Juri Galanskow zusammen mit drei weiteren Dissident∙innen.
Seit der Verhaftung und Verurteilung von Brodsky dokumentieren die Dissident∙innen die Prozesse und verbreiten diese Dokumentationen im Samisdat . Daraufhin werden die Herausgeber∙innen dieser Untergrundschriften verhaftet und vor Gericht gestellt. Davon berichten dann weitere Dissident∙innen, die ihrerseits verhaftet werden und so läuft es immer weiter. Natalja Gorbanewskaja und ihre Freund∙innen finden, dass die Information über all diese Verhaftungen und Prozesse systematischer gesammelt und verbreitet werden sollten. So entsteht die Idee, eine Untergrund-Zeitschrift – die Chronik der laufenden Ereignisse – herauszugeben. Den Anlass liefert die Sowjetmacht selbst: Die Parteiführer beschließen, zusammen mit der UNO 1968 das Jahr der Menschenrechte zu begehen.
Chronik der laufenden Ereignisse
Die Chronik wird heute als Beginn der Pressefreiheit in Russland gefeiert. Tatsächlich können bis 1983 insgesamt 63 Ausgaben erscheinen, auch wenn die Redakteur∙innen immer wieder verhaftet werden und sie eigentlich alle zwei Monate eine Nummer geplant hatten. Die ersten zehn Ausgaben entwirft und tippt Gorbanewskaja nahezu allein. Sie prägt den Stil, sich jeden Kommentars und vor allem jeder Emotionalisierung zu enthalten. Die Fakten sollen für sich sprechen.
Gorbanewskaja ist im Frühjahr 1968 im achten Monat schwanger und sie hat selbst eine kafkaeske Ohnmachtserfahrung hinter sich: Im Februar 1968 hat man sie hochschwanger gegen ihren Willen und ohne Angabe von Gründen erst in einer Frauenklinik und dann in einer psychiatrischen Anstalt zwölf Tage lang festgehalten. Am 14. Mai 1968 kommt ihr zweiter Sohn Iossif zur Welt. Nun kann sie sich wieder frei bewegen. Am 21. August erfahren sie und ihre Freund∙innen vor dem Gericht, das Anatoli Martschenko den Prozess macht, dass gerade Panzer durch Prag rollen. Sie verabreden sich zu handeln.
Die Chronik der laufenden Ereignisse wird heute als Beginn der Pressefreiheit in Russland gefeiert / Foto: Chronik der laufenden Ereignisse, 1968 Nr. 4 © Archiv FSO Die ersten zehn Nummern entwirft und tippt Gorbanewskaja nahezu allein. Sie prägt den Stil, sich jeden Kommentars und vor allem jeder Emotionalisierung zu enthalten / Foto: Schuber mit Fotoaufnahmen des Menschenrechtsbulletins / © Archiv FSO Am 21. August erfahren Gorbanewskaja und ihre Freund∙innen, dass gerade Panzer durch Prag rollen / Sowjetische Panzer in Prag im August 1968 / Foto © Engramma.it unter CC BY-SA 3.0 „Der Wille des sowjetischen Volkes ist geeint und unerschütterlich. Alle sowjetischen Menschen unterstützen die Maßnahmen unnachgiebig und entschieden, die zum Schutz des Sozialismus und des Friedens unternommen werden“ / Foto: Artikel in der Zeitung Prawda vom 23. August 1968 Gorbanewskaja (rechts) mit ihren Freund∙innen aus dem Kreis der Dissident∙innen, 1965 / Foto © Yuri Galperin/Archiv FSO
Fünf Minuten Freiheit
Gorbanewskaja und ihre sieben Mitstreiter∙innen verabreden sich am 25. August 1968 für zwölf Uhr mittags auf dem Roten Platz. Gorbanewskaja malt morgens die Transparente, die sie im Kinderwagen ihres drei Monate alten Sohns versteckt, den sie mitnimmt. Auf dem Platz setzen sich die Demonstrant∙innen auf den Lobnoje mesto, den Ort, wo früher der Zar seine Erlasse bekannt gab. Kaum haben sie ihre Transparente entrollt, stürzen sich KGB-Agenten in zivil, aber auch neugierige Passanten auf sie. „Antisowjetler“, „Jüdische Fressen“, „Du Schlampe kriegst ein Kind nach dem anderen, und jetzt kommst du hier auf den Roten Platz“ – hören sie von allen Seiten.4
Sie werden geschlagen und auf ein Revier der Miliz gebracht, das in der Nähe des Kreml liegt. Gorbanewskaja wird wegen ihres Säuglings nach dem Verhör zwar wieder freigelassen und im Gegensatz zu ihren Mitstreiter∙innen im folgenden Prozess nicht zu mehreren Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Aber sie weiß, dass das nur ein Aufschub ist. Der Staat hält sie, weil sie sich trotz ihres Säuglings in Gefahr gebracht hat, für nicht zurechnungsfähig und unterstellt sie der Vormundschaft ihrer Mutter. Immerhin kann sie im März 1969 ein Gutachten erwirken, dass sie nicht an Schizophrenie leidet. Doch über den Grundsatz, ob eine Mutter ihre Menschenrechtsaktivität über das Wohl ihres Sohns stellen darf, wird auch in der männerdominierten Dissidenten-Szene gestritten. Auch gibt es Mitstreiter, die meinen, die 15 Minuten Aufmerksamkeit seien die drakonischen Strafen nicht wert gewesen. Es ist die erste und letzte derartig spontane und öffentliche Protestkundgebung der Dissident∙innen.
Derweil arbeitet Natalja Gorbanewskaja fieberhaft an ihrer Dokumentation Mittags auf dem Roten Platz5 über ihre Demo und die folgenden Strafmaßnahmen. Sie sitzt an der elften Nummer der Chronik, als sie am 24. Dezember 1969 verhaftet wird. Sie bekommt keine Lagerstrafe mit einem festgesetzten Strafmaß, sondern im April 1970 die Diagnose „schleichende Schizophrenie“ – ohne Aussicht auf Entlassung.
Gorbanewskaja und ihre Mitstreiter∙innen verabreden sich am 25. August 1968 für zwölf Uhr mittags auf dem Roten Platz. Gorbanewskaja malt die Transparente, die sie im Kinderwagen ihres kleinen Sohns versteckt / Foto: Aufnahme des Transparents „Für eure und unsere Freiheit“ / © Archiv FSO Larissa Bogoras (1929–2004) – Menschenrechtsaktivistin und Dissidentin, verurteilt zu vier Jahren Verbannung in Sibirien / Foto, Anfang 1970er Jahre © The Andrei Sakharov Research Center for Democratic Development in Kaunas Wladimir Dremljuga (1940–2015) – Dissident und Politgefangener, verurteilt zu drei Jahren Lagerhaft, 1974 emigriert in die USA / Foto: Ende 1960er Jahre © Archiv FSO Wadim Delone (1947–1983) – Dichter und Dissident, verurteilt zu zwei Jahren und zehn Monaten Lagerhaft, 1975 emigriert nach Paris / Foto © Archiv FSO Konstantin Babizki (1929–1993) – Sprachwissenschaftler, Menschenrechtsaktivist und Dissident, verurteilt zu drei Jahren Verbannung im russischen Norden / Foto © Memorial Pawel Litwinow (geb. 1940) – Physiker und Dissident, verurteilt zu fünf Jahren Verbannung in Sibirien, 1976 emigrierte er in die USA / Foto © Memorial Wiktor Fainberg (geb. 1931) – Philologe und Dissident, zwangseingewiesen in die psychiatrische Klinik, in der er vier Jahre verbrachte, 1974 emigrierte er nach Frankreich / Foto © Memorial Tatjana Bajewa (geb. 1947) – Teil der Dissidentenbewegung und die einzige von acht Demonstrant∙innen, die nicht verfolgt wurde / Foto © unbekannt Gorbanjewskaja bekommt keine Lagerstrafe, sondern im April 1970 die Diagnose „schleichende Schizophrenie“ – ohne Aussicht auf Entlassung / Foto: Gorbanewskaja, ca. Anfang der 1970er Jahre © Archiv FSO
Psychiatrisches Gefängnis
Bevor Gorbanewskaja im Januar 1971 nach Kasan in ein psychiatrisches Gefängnis verlegt wird, ist sie ein ganzes Jahr im Moskauer Butyrka-Gefängnis inhaftiert. Der Staat entzieht ihr das Sorgerecht für ihre zwei Söhne, das zum Glück ihre Mutter erstreiten kann. Freunde verstecken so lange die beiden Kinder. Die Zwangseinweisung in ein psychiatrisches Sonderkrankenhaus war eine spezifische Form der Bestrafung, die in der Sowjetunion praktiziert wurde. Im Gegensatz zum Lager oder zum Gefängnis gab es da keine festgelegte Strafzeit, und es konnte nicht überprüft werden, ob die Rechte eingehalten wurden, beziehungsweise, ob eine willkürliche Behandlung erfolgte. Gorbanewskaja verabreicht man zwangsweise neuneinhalb Monate lang das sehr starke Psychopharmakon Haloperidol. Es führt bei ihr zu starker Konzentrationsschwäche und der ständigen Angst, tatsächlich verrückt zu werden. Aufgrund des massiven internationalen Drucks und ihrer eigenen Beharrlichkeit kommt sie im Februar 1972 frei. Auf die Frage eines Freundes, ob sie diese Zeit gegen drei Jahre Straflager tauschen würde, antwortet sie: „Nicht nur gegen drei, sondern gegen sieben würde ich es tauschen. Gott bewahre alle Menschen vor dieser Erfahrung, auch die, die mich da gefoltert haben“.
Als sie am 12. Februar 1974 live miterlebt, wie der KGB Alexander Solschenizyn verhaftet, wird ihr klar: Wenn sie einer dauerhaften Entmündigung und Zwangspsychiatrisierung entgehen will, muss sie das Land verlassen. Im Dezember 1975 reist sie mit ihren beiden Söhnen über Wien nach Paris aus.
Am 24. Dezember 1969 wird Gorbanewskaja verhaftet. Sie bekommt keine Lagerstrafe, sondern im April 1970 die Diagnose „schleichende Schizophrenie“ – ohne Aussicht auf Entlassung / Foto: Bericht des KGB-Vorsitzenden Juri Andropow an das Zentralkomitee der KPdSU über Gorbanewskajas Prozess / © Archiv FSO „Warte auf mich. Ich bin weit weg, aber ich komme zurück.“ Der Staat entzieht Gorbanewskaja das Sorgerecht für ihre zwei Söhne, das zum Glück ihre Mutter erstreiten kann / Foto: Postkarte vom 1. Mai 1971 an den Sohn Ossja (Iossif) © Archiv FSO Aus dem Gefängnis und aus dem Krankenhaus darf Gorbanewskaja eine bestimmte Anzahl Briefe im Monat versenden / Foto: Brief von Gorbanewskaja an Ihre Mutter aus dem psychiatrischen Gefängnis / © Archiv FSO Die Briefe wurden zensiert, sodass die Gefangenen wichtige Informationen nur über illegale und geheime Wege transportieren konnten / Foto: Geheimbrief von Gorbanewskaja an ihre Mutter, November 1970 © Archiv FSO
Emigration
Gorbanewskaja folgt einer Einladung des Schriftstellers Wladimir Maximow, der die literarische Exilzeitschrift Kontinent in Paris herausgibt. In Europa taucht sie in die Welt der Emigranten-Presse ein, wo unter anderem die aus der Sowjetunion geschmuggelten Schriftstücke veröffentlicht werden. Von Anfang an arbeitet sie auch als Auslandskorrespondentin der sowjetischen historischen Untergrundzeitschrift Pamjat (dt. Erinnerung) und seit den 1980er Jahren auch für die ideengeschichtliche Exil-Wochenschrift Russkaja Mysl (dt. Russischer Gedanke). Ab 1983 ist sie stellvertretende Chefredakteurin von Kontinent.
Das Geld ist anfangs immer knapp. Das ficht sie nicht an: „Paris war die richtige Stadt für mich: intellektuell und emotional. Ich bin Pariserin und Moskauerin!“ Sie liebt es, mit dem Bus durch die Stadt zu fahren und in der letzten Sitzreihe stehend „ihre“ Stadt zu erkunden. Sie liebt es auch mit ihren Söhnen, und später mit ihren Enkeln, im Café Flipper zu spielen.
Gorbanewskaja frischt nicht nur ihr Französisch auf, sondern auch ihr Polnisch, das sie sich bereits 1956 als „Tor nach Europa“ beigebracht hat. Nun übersetzt sie in Zusammenarbeit mit Brodsky Czesław Miłosz und Dokumente der Solidarność. Sie ist der festen Überzeugung, dass für eine Dichterin Fremdsprachen kein Problem, sondern im Gegenteil eine Bereicherung sind: ihre Sprache sei reicher, reiner, feinfühliger geworden. Überhaupt ist sie der Meinung, dass nicht sie die Gedichte schreibt, sondern die Sprache sie als Mittel nutzt, um Gedichte zu formen. Folglich haben vor ihr nur Gedichte Bestand, die „sich selbst geschrieben haben“, und sie vernichtet alle, die sie „erzwungen“ hat.
Im Februar 1972 kommt Gorbanewskaja frei, ihr wird jedoch schnell klar: Wenn sie einer dauerhaften Entmündigung und Zwangspsychiatrisierung entgehen will, muss sie das Land verlassen / Foto: Abschied von Gorbanewskaja in ihrer Wohnung in Moskau, 1975 © Archiv FSO Im Dezember 1975 reist sie mit ihren beiden Söhnen über Wien nach Paris aus. Später sagt sie: „Paris war die richtige Stadt für mich: intellektuell und emotional. Ich bin Pariserin und Moskauerin!“ / Foto © Patrick Bernard/Archiv FSO In Europa taucht sie in die Welt der Emigranten-Presse ein, wo unter anderem die aus der Sowjetunion geschmuggelten Schriftstücke veröffentlicht werden. Ab 1983 ist sie stellvertretende Chefredakteurin von Kontinent / Foto: Ausgaben der Zeitschrift Kontinent / © Maria Klassen/Archiv FSO Gorbanewskaja frischt nicht nur ihr Französisch auf, sondern auch ihr Polnisch. Nun übersetzt sie in Zusammenarbeit mit Brodsky Czesław Miłosz und Dokumente der Solidarność / Foto: Gorbanewskaja mit Joseph Brodsky vor der Literaturnobelpreisverleihung, Stockholm 1987 © Archiv FSO Sie ist der festen Überzeugung, dass für eine Dichterin Fremdsprachen kein Problem, sondern im Gegenteil eine Bereicherung sind. Überhaupt ist sie der Meinung, dass nicht sie die Gedichte schreibt, sondern die Sprache sie als Mittel nutzt, um Gedichte zu formen / Foto © Nina Alovert Gorbanewskaja hat die Auswanderung als nicht so tragisch empfunden. Sie schrieb: „Ich war froh, dass ich die Hölle der psychiatrischen Klinik überlebt hatte, dass ich lebte und mich nichts mehr bedrohte“ / Foto: Gorbanewskaja mit ihren zwei Söhnen und ihrer Mutter, die sie 1988 in Paris besuchen konnte © Archiv FSO
Revival 2013
Nach dem Zerfall der UdSSR kehrt Natalja Gorbanewskaja nicht nach Russland zurück. Sie kann ihre Texte seit 1990 in Russland publizieren. Im Dezember 1992 besucht Gorbanewskaja erstmals wieder ihre alte Heimat. Aber 2005 nimmt sie die polnische, und nicht die russische Staatsbürgerschaft an. Es sind die Universität Lublin und die Karls-Universität Prag, die sie für ihre Verdienste und ihr Lebenswerk ehren; in Russland erhält sie nur eine Auszeichnung für ihre Poesie.
Zuletzt besucht Natalja Gorbanewskaja Russland im August 2013 zum 45. Jahrestag der legendären Demonstration von 1968. Sie kommt auf den Roten Platz mit den gleichen Bannern wie damals. Putin ist seit 13 Jahren Präsident; den Bolotnaja-Protest gegen die gefälschte Duma-Wahl im Winter 2011/2012 und gegen seine Wiederwahl 2012 hat er unterdrücken lassen; viele sitzen wieder auf der Anklagebank oder bereits im Lager. Die Erinnerungsdemo ist den Behörden nicht genehm: Zwar wird Gorbanewskaja nicht angetastet, aber die Mitprotestierenden werden abgeführt.
Im Oktober 2013 bei der Verleihung der Ehrenmedaille der Karls-Universität in Prag erinnert sie an alle Teilnehmenden der Demonstration von 1968. Und dann fügt sie hinzu:
„Ich möchte Sie an diejenigen erinnern, die es heute wagen zu demonstrieren – an die russischen politischen Gefangenen von heute. Diejenigen, die wegen der Demo auf dem Bolotnaja-Platz sitzen, insbesondere Michail Kosenko, ein Opfer der wiederauflebenden Strafpsychiatrie. Maria Aljochina und Nadeshda Tolokonnikowa, die einen ungleichen, aber tapferen Kampf gegen den heutigen Gulag führen. Die erste Aktion der Gruppe Pussy Riot, die meine Aufmerksamkeit erregte, war übrigens ihr Auftritt auf dem Roten Platz , genau an der Stelle, an der wir unsere Sitzdemonstration abhielten, dem Lobnoje Mesto. Sie tanzten und sangen ein Lied mit den berühmten, tradierten Worten: Für eure und unsere Freiheit!“
Die Rede bei der Verleihung der Ehrenmedaille der Karls-Universität in Prag, 20138
Vollkommen unerwartet stirbt Natalja Gorbanewskaja am 29. November 2013 im Alter von 77 Jahren in Paris. Am Abend zuvor hat sie noch ihren Neffen mit Borschtsch bewirtet. Diesen mochte er besonders, und sie hatte immer einen Topf davon im Kühlschrank parat stehen.
Gorbanewskaja wird auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise beigesetzt. Bei der Beisetzung erweisen offizielle Vertreter der Republiken Tschechien und Polen ihr die letzte Ehre. Russland entsendet niemanden.
Ausschnitt aus dem Gedicht Die Fischer brachten die Netze aus, in Übersetzung von Susanne Schattenberg. Original: Gorbanevskaja, Natalʹja (1969): Stichi iz „Feniks-61“, Frankfurt am Main
Gorbanevskaja, Natalʹja (2007): Poldenʹ: delo o demonstracii 25 avgusta 1968 goda na Krasnoj ploščadi , Moskau, S. 36
Gorbanevskaja, Natalʹja (2007): Poldenʹ: delo o demonstracii 25 avgusta 1968 goda na Krasnoj ploščadi , Moskau
Ulickaja, Ljudmila (2014): Natalʹja Gorbanevskaja «V stenku belyj lob, kak lico v sugrob…» , in: Ulickaja, Ljudmila Poėtka. Kniga o pamjati. Natalʹja Gorbanevskaja, Moskau, S. 318
Zit. nach: Ulickaja, Ljudmila (2014): Poėtka. Kniga o pamjati. Natalʹja Gorbanevskaja, Moskau, S. 329
Drehbuch und Text: Susanne Schattenberg
Illustrationen: Anna Che
Animationen: Philipp Yarin
Veröffentlicht: 25. August 2022