Leningrad 1957. Ein Mitschüler bringt dem 13-jährigen Kolja Wassin, der am Stadtrand in der Familie eines Militäringenieurs aufwächst, eine selbstgemachte „Schallplatte auf Knochen ”. Durch das Rauschen und Kratzen des Plattenspielers dringt Little Richards Hit Tutti Frutti. Diese neue Musik, die so anders ist als alles bisher Gehörte, stellt Koljas Welt komplett auf den Kopf. Alles Sowjetische erscheint ihm von nun an wie ein plump bemalter Vorhang, der die echte Welt vor ihm verhüllt. Rock ’n’ Roll wird für Kolja regelrecht zur Religion – mit Göttern und Propheten wie Elvis Presley, Bob Dylan und Jimmy Hendrix und natürlich der Heiligen Vierfaltigkeit der Beatles.
Was für viele ein jugendliches Vergnügen ist, das sie als Erwachsene vergessen, wird für Kolja zum Evangelium, das er freudig mit seinem Umfeld teilt. Als Symbol seines Glaubens dient ihm die Beatles-Zeile „All you need is love!“. Indem er sich in der Sowjetunion für ein Leben als Narr in Beatles entscheidet, zeigt Kolja Wassin, wie einfach es ist und wie viel Mut es zugleich braucht, sich der absoluten Freiheit anzuvertrauen. Für einen, der diesen Weg eingeschlagen hat, sind jegliche Grenzen nur auf Landkarten eingezeichnete Linien. Die Durchlässigkeit des Eisernen Vorhangs erprobt er etwa im Oktober 1970: Am Vortag von John Lennons Geburtstag fährt Kolja zum Leningrader Hauptpostamt und schickt ein Glückwunsch-Telegramm nach London.
Happy Birthday, John!
Zwei Monate später bekommt Kolja von John Lennon ein signiertes Exemplar der Platte Live Peace in Toronto. Es wird zur wichtigsten Reliquie in Koljas Sammlung, die er schon mehrere Jahre zuvor angelegt hat.
Zu dieser Zeit hat Kolja schon ein Studium am Leningrader Institut für Bauingenieurwesen begonnen und abgebrochen – aus ihm wird kein sowjetischer Bauingenieur. Stattdessen absolviert er ein Technikum und fängt als Gestalter in einer Buchbinderei an. Nicht der lukrativste Beruf, dafür hat er viel Freizeit und Zugang zu den verschiedensten Farben und Materialien, mit denen er selbst die Alben seiner Lieblingsbands gestaltet.
Diesem Lebensmodell — ein Minimum an finanzieller Absicherung, um ein Maximum an Freizeit den liebsten und wichtigsten Dingen zu widmen – folgen in Koljas Generation viele Menschen: inoffizielle Dichter, Musiker und bildende Künstler. Kolja schreibt keine Gedichte, spielt in keiner Rockband, stellt seine Bilder nicht in Wohnungen aus. Seine Sache, ja, geradezu seine Mission sind die Rockmusik und jene Wahrheiten, die sie, wie er findet, in sich trägt: Liebe, Schönheit und Freiheit.
Tag für Tag jagt Kolja neuen Musik-Platten hinterher, stöbert in Musikzeitschriften nach Fotos seiner Lieblingsstars. Er kauft sie zum dreifachen Preis den Farzowschtschiki ab, wie man in der Sowjetunion Kleinhändler für ausländische Waren nannte, tauscht sie bei anderen Fans ein oder bekommt sie von Gästen aus dem Westen geschenkt. Und sehr bald erreicht seine Kollektion die Dimension eines richtigen Museumsbestands.
Für seine Bekanntschaft (wenn auch auf Distanz) mit John Lennon und sein enzyklopädisches Wissen über Rockmusik ist Kolja Wassin in der Leningrader Hippieszene, unter Musikbegeisterten und Rockmusikern berühmt. Offenbar war er von der Sorte Mensch, die, wenn sie in eine Gesellschaft kommen, auf wundersame Weise deren Eigenschaften ändern, wie Hefe, die Beerensaft in Wein verwandelt. Er selbst ist kein Musiker, doch er beteiligt sich ab den frühen 1970er Jahren aktiv an der Organisation von Sessions – halblegalen Konzerten, die meist in Kulturhäusern der Vororte oder in Cafés am Stadtrand stattfinden.
1971 bahnt sich dann in der Leningrader Rockszene eine Revolution an, bei der Kolja Wassin eine unmittelbare Rolle spielt.
Im Dezember 1970 bekommt Kolja von John Lennon ein signiertes Exemplar der Platte Live Peace in Toronto. Es wird zur wichtigsten Reliquie in Koljas Sammlung / Foto © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Ein Minimum an finanzieller Absicherung, um ein Maximum an Freizeit den liebsten und wichtigsten Dingen zu widmen – das ist das Lebensmodell, dem Kolja folgt / Foto © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Kolja schreibt keine Gedichte, spielt in keiner Rockband, stellt seine Bilder nicht in Wohnungen aus. Seine Sache ist die Rockmusik / Foto © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Tag für Tag jagt Kolja neuen Musik-Platten hinterher, stöbert in Musikzeitschriften nach Fotos seiner Lieblingsstars / Foto © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Für seine quasi Bekanntschaft mit John Lennon und sein enzyklopädisches Wissen über Rockmusik ist Kolja Wassin in der Leningrader Hippieszene, unter Musikbegeisterten und Rockmusikern berühmt / Foto © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg
Illegale Konzerte
Zum Alltag der sowjetischen Rockmusiker gehören minderwertiges Equipment, geringe und unregelmäßige Gagen und das Risiko, vor, nach oder anstelle des Konzerts von der Polizei verhaftet oder von Gopniks — aggressiven Jugendlichen aus Schlafbezirken und Vororten — verprügelt zu werden. Alternativen zum Underground-Showbusiness sind die „Vokal-Instrumental-Ensembles“ (VIA), die offiziell in den Kulturhäusern und Philharmonien auftreten und Platten in zigtausend- und sogar millionenstarken Auflagen herausbringen. Ihr relativ wohlhabendes Leben als „professionelle“ Musiker bezahlen die VIA-Mitglieder mit der Freiheit, das Repertoire und die Bühnenshow selbst zu bestimmen.
Unter diesen Bedingungen wird 1971 in Leningrad mit Koljas Zutun der unabhängige Underground-Verein Pop-Federazija gegründet: Getarnt als Organisation des Komsomol , veranstaltet er mit beneidenswerter Regelmäßigkeit kommerzielle Konzerte führender Leningrader Rockbands – ohne ihr Repertoire auch nur irgendwie einzuschränken. Die Federazija bietet den Musikern stabile Gagen, hochwertige Technik, ein erprobtes Publikum und: Es gibt keine polizeiliche Verfolgung. Im Gegenzug verpflichten sich die Bands, die der Federazija beitreten, nur noch in dessen Auftrag aufzutreten. Die Konzerte finden meistens in Cafés oder in Bildungseinrichtungen statt, die nach dem Unterricht gewöhnlich leerstehen. Höhepunkt dieser Geschichte ist ein nächtliches Rock-Festival in einer geschlossenen Schule auf der Wosstanija-Straße. Es treten mehrere Leningrader Bands auf, Headliner sind die polnischen Skaldowie.
Die Pop-Federazija existiert nur zehn Monate. Nach der Verhaftung ihres Gründers Sergej Artjomow (der Erlös aus den Konzerten war zu einem erheblichen Teil in seine Taschen gewandert) verstummt die Leningrader Rock’n’Roll-Szene für ein paar Jahre. Doch Mitte der 1970er Jahre formieren sich in der UdSSR neue Bands, die ihre Songs auf Russisch singen. Kolja Wassin, der mit vielen Musikern befreundet ist und mit ihnen die Liebe zu den Beatles teilt, beginnt, sich aktiv für Bands einzusetzen, die später in den Kanon des russischen Rock eingehen – Maschina Wremeni und Aquarium . Er organisiert einige ihrer Konzerte. 1978 nimmt Andrej Makarewitsch in Koljas Wohnung zum ersten Mal seine Lieder zur Gitarre auf – ohne Band. Damals kommt es sogar dem Musiker selbst absurd vor, doch schon in den 1980ern sind Makarewitschs Soloalben genauso populär wie die Platten vonMaschina Wremeniin voller Besetzung.
Trotzdem der Leningrader Rock ab Ende der 1970er Jahre russisch wurde , gehörten die von Kolja organisierten Beatles-Geburtstage zu den wichtigsten Events der Leningrader Tussowka .
Getarnt als Organisation des Komsomol, veranstaltet Pop-Federazija regelmäßig kommerzielle Konzerte führender Leningrader Rockbands / Foto aus dem Fotoalbum von Kolja Wassin © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Die Federazija bietet den Musikern stabile Gagen, hochwertige Technik, ein erprobtes Publikum und: Es gibt keine polizeiliche Verfolgung / Konzert der Band Lesnyje bratja (dt. Waldbrüder), ca. Ende 1960–1970er © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Mitte der 1970er Jahre formieren sich in der UdSSR neue Bands, die ihre Songs auf Russisch singen. Kolja Wassin beginnt, sich aktiv für Bands einzusetzen, die später in den Kanon des russischen Rock eingehen / Foto: die Band Maschina Wremeni, Andrej Makarewitsch (dritter von links) und Kolja Wassin (unten), 1977 © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Kolja Wassin (rechts) und Boris Grebenschtschikow (links unten) / Foto © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Kolja Wassin und Mike Naumenko (Zoopark ) / Foto © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Kolja Wassin und Konstantin Kintschew (Alisa) / Foto © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg
Beatles Birthdays
Das erste Beatles-Fest ist ein Rockkonzert an John Lennons Geburtstag, das Kolja 1971 im Café Brigantina veranstaltet. Nach mehreren Jahren Pause werden die Beatles-Birthdays ab 1976 zu regelmäßigen Events des Leningrader Szenelebens. In der kalten Jahreszeit feiert man die Geburtstage von John (9. Oktober) und George (25. Februar) traditionell mit Sessions in einem Kulturhaus oder in der Aula einer Universität, im Sommer – (an Pauls Geburtstag (18. Juni) und dem von Ringo (7. Juli) zieht es die bunte Gesellschaft aus Musikern, Fans und Partypeople in die Natur hinaus, fernab von Polizei und Kultur-Sowjet. Geld gibt es freilich auch keines. Die einzige Bedingung – mindestens einen Song des Geburtstagskindes zu spielen oder zu singen.
Stammgäste der Beatles-Birthdays sind Ende der 1970er Boris Grebenschtschikow und die Band Aquarium sowie ihnen nahestehende Musiker — Olga Perschina, Juri Iltschenko und Mike Naumenko. Im Umfeld dieses „erweiterten Aquariums“, das oft bei Kolja abhängt, entsteht die Idee zu einem der ersten selbstverlegten Rock-Magazine, Roxi, das die Samisdat -Literaturzeitschriften um Musikjournalismus westlicher Tradition bereichert. So kommt die Leningrader Rockszene zu ihrem eigenen Rolling Stone mit kritischen Artikeln, einem Newsfeed, mit Interviews und einer Hitparade. In der ersten Ausgabe publiziert Kolja unter dem leicht durchschaubaren Pseudonym „Wassja Kolin“ einen begeisterten Beitrag über Maschina Wremeni. Boris Grebenschtschikow erinnert sich später an die Leningrader Siebziger: „Wir schafften es, uns hier alles selber zu machen – unser eigenes Woodstock, unser New York, unser London, was auch immer wir wollten.“ Liverpool war auf dieser Karte natürlich Koljas Wohnung im Bezirk Rshewka.
1981 wird dann der vom ersten Tag an legendäre Leningrader Rockcluberöffnet. So wie die Pop-Federazija zehn Jahre davor ermöglicht der Rockclub den Bands relativ regelmäßige Auftritte ohne Probleme mit der Milizija. Doch jetzt sind die Organisatoren keine Abenteurer aus der Musikszene, sondern der Leningrader KGB – er versammelt die auffälligsten Musiker an einem Ort, um sie leichter unter Kontrolle zu halten. Kolja Wassin bleibt einer der größten Helden des Leningrader Rocks – er bekommt vom Club den Mitgliedsausweis Nr. 1, und seine Wohnung ist oft Bühne für Konzerte oder einfach für gesellige Abende mit lauter Stars aus der Rockszene.
Auf der Welle der Perestroika wird der russische Rock zum Symbol der Wendezeit. Die Songs werden jetzt nicht mehr zensiert, die Helden des bisherigen Undergrounds treten im zentralen Fernsehen auf, und die sowjetische Schallplattenfirma Melodija gibt Alben heraus, die ein paar Jahre zuvor in Underground-Studios aufgenommen wurden. Nach triumphalen Tourneen durch die ganze Sowjetunion, während derer die Rocker ganze Stadien füllen, geben viele Musiker auch im Ausland Konzerte. 1989 bekommt Kolja Wassin eine Einladung vom amerikanischen Elvis-Presley-Fanclub. Er macht sich auf zu einer Pilgerreise durch die heiligen Stätten des Rock’n’Roll – nach Liverpool, London und Memphis und nach Tennessee, in die Heimat von Elvis.
Zu den wichtisten Events der Leningrader Tusowka gehörten die von Kolja organisierten Beatles-Geburtstage / Foto: Geburtstag von George Harrison, 1978 © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Das erste Beatles-Fest ist ein Rockkonzert an John Lennons Geburtstag, das Kolja 1971 veranstaltet. Ab 1976 werden solche Konzerte zu regelmäßigen Events des Leningrader Szenelebens / Foto: eine Seite aus dem Fotoalbum von Kolja Wassin © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Keine Polizei und kein Kultur-Sowjet. Geld gibt es freilich auch keines. Die einzige Bedingung – mindestens einen Song des Geburtstagskindes zu spielen oder zu singen / Foto: Boris Grebenschtschikow auf dem Lennon-Geburtstag, 1984 © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Im Umfeld der Musiker, die oft bei Kolja abhängen, entsteht die Idee zu einem der ersten selbstverlegten Rock-Magazine, Roxi. So kommt die Leningrader Rockszene zu ihrem eigenen Rolling Stone / Foto: Titelblatt der Musikzeitschrift Roxi, 1980 © Archiv FSO 1981 wird dann der vom ersten Tag an legendäre Leningrader Rockcluberöffnet. Kolja Wassin bekommt vomClub den Mitgliedsausweis Nr. 1 / Foto: Konzert der Band Zoopark, 1983 / © Dmitry Konradt
Love-and-Peace-Tempel
Auf seiner Reise führt Kolja ein Tagebuch, das nach seiner Rückkehr aus dem Ausland in der Rockclub-Zeitung Roxi-Express veröffentlicht wird — der Nachfolgerin der Samisdat-Zeitschrift. Fast jeder Eintrag beginnt mit den Worten „Das ist ein großer Tag meines Lebens“. Kolja ist im Westen von allem begeistert: durch Straßen zu laufen, durch die seine Götter spaziert sind, Menschen die Hand zu schütteln, die die Beatles persönlich kannten, in den Laden zu gehen und jede beliebige Platte zu bekommen oder blaue Wildlederschuhe wie im Song Blue Suede Shoes von Elvis. Als Ehrenbürger von Memphis und Shelby County, beladen mit Souvenirs und Mitbringseln und den Kopf voller Ideen kehrt Kolja zurück nach Leningrad. Da scheint sich alles verändert zu haben. Für immer und zum Besseren.
Ende der 1970er Jahre schreiben Koljas Freunde Mike Naumenko und Juri Iltschenko praktisch gleichzeitig Erzählungen mit einem ähnlichen Sujet – kurze Reportagen aus dem Leben eines „sowjetischen Rockstars“, der das mediale Interesse satt hat, die Scharen von Groupies nicht mehr sehen kann, der erschöpft ist von monatelangen Tourneen um die ganze Welt und sich überlegt, wie er den Abend verbringen soll: in ein teures Restaurant gehen oder live in einer sowjetischen Fernsehshow auftreten. Damals liest sich das fast wie Science Fiction. Ende der 1980er Jahre wird genau das schockierende Realität. Im Herbst 1990 plant Kolja ein Konzert zum fünfzigsten Geburtstag von John Lennon, das er mühelos nicht einfach irgendwo, sondern im Sportpalast Jubileiny unterbringt – auf einer der größten Konzertbühnen der Stadt.
Kurz nach diesem epochalen Konzert hat Kolja im Traum eine Idee, der er sein ganzes restliches Leben widmet. Er träumt von einem John-Lennon-Love-and-Peace-Tempel: ein neunstöckiges Gebäude in Form eines Zauberbergs, das sich auf der Wassiljewski-Insel erheben soll. Nach und nach skizzieren seine Architekten-Freunde die Baupläne jedes Stockwerks: hier der Konzertsaal, da das Theater und da die Proberäume. Hier kann man einfach im Erdbeerfeld liegen. Und auf der neunten Ebene (Cloud Nine, die magische Zahl der Beatles) wird das John-Lennon-Zimmer sein, wo er einfach allein sein kann. In Wahrheit habe Mark Chapman ihn nämlich nicht getötet, und John verstecke sich vor der irdischen Hektik irgendwo in Irland oder doch in Norditalien – in der Frage war sich Kolja aufgrund seiner Quellen nicht ganz sicher.
Als Kolja 1992 mitsamt seiner ganzen Sammlung von Rshewka in ein kürzlich besetztes Haus im Stadtzentrum zieht, in die Puschkinskaja 10 – heute Art-Zentr – nennt er seine Residenz nicht Museum und nicht Galerie, sondern „Büro des John-Lennon-Love-and-Peace-Tempels“. Sein ganzes Tun richtet er darauf aus, der Stadtbevölkerung und den Behörden zu vermitteln, wie dringend die Stadt diesen neuen Tempel braucht. Aber leider – sowohl die Stadtverwaltung als auch die finanzstarken Petersburger und auch die tausenden Touristen, die in die Puschkinskaja pilgern und sich Russlands größten Beatlesfan ansehen, halten diese Idee für einen Spleen und Kolja für einen Stadtirren.
Kolja tritt regelmäßig in Radio und Fernsehen auf, lernt, mit dem Internet umzugehen, aber er wird Tropfen um Tropfen immer müder und immer enttäuschter. Die neuen Lieder der alten Freunde gefallen ihm nicht mehr, die Reformen im Land scheinen in die falsche Richtung zu führen. Der Weg aus dem Reich der Notwendigkeit hat nicht ins Reich der Freiheit geführt, sondern in eine Herrschaft von Willkür und Chaos. George Harrison stirbt. Paul McCartney begegnet Kolja, den er während einer Tournee durch Russland trifft, zwar mit britischer Höflichkeit, aber kühl.
1989 bekommt Kolja Wassin eine Einladung vom amerikanischen Elvis-Presley-Fanclub. Er macht sich auf zu einer Pilgerreise durch die heiligen Stätten des Rock’n’Roll / Kolja Wassin mit dem Auto von Elvis Presley, 1989 © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Als erster Elvis-Fan in der Sowjetunion wird Kolja zum Ehrenbürger von Memphis / Foto: Urkunde des Ehrenbürgers von Memphis © Archiv des Kolja-Wassin-Museums in Sankt Petersburg Kolja hat im Traum eine Idee, der er sein ganzes restliches Leben widmet. Er träumt von einem John-Lennon-Love-and-Peace-Tempel: ein neunstöckiges Gebäude in Form eines Zauberbergs, das sich auf der Wassiljewski-Insel erheben soll / Foto: Modell des Tempels © Dimitri Pjankow 1992 zieht Kolja mitsamt seiner ganzen Sammlung von Rshewka in ein kürzlich besetztes Haus im Stadtzentrum, in die Puschkinskaja 10, das später zum Art-Zentr wurde / Foto: Zimmer von Kolja Wassin, 2022 © Dimitri Pjankow
Heimgehen
Am 29. August 2018 erscheint in der Chronik der Sankt Petersburger Zeitung Fontanka eine kurze Meldung:
„Ein älterer Herr ist vom 2. Stock des Einkaufszentrums Galereja in Sankt Petersburg gestürzt … Der Unfall ereinete sich gegen 22:30 Uhr. Der Mann fiel vom 2. Stock hinunter ins Erdgeschoss. Vorläufigen Informationen zufolge starb der Verunglückte am Unfallort. Um seine Leiche befindet sich im Moment eine Absperrung, die Mitarbeiter des Einkaufszentrums warten auf das Eintreffen von Krankenwagen und Polizei. Die Rolltreppen wurden abgestellt.“
Drei Tage später schreibt Kolja Wassins Freund und Mitstreiter Nikolaj Barabanow: „Am 19. August hat sich mein Freund Kolja Wassin zu John Lennon und George Harrison begeben. Mögen sie es da drüben licht und gemütlich haben!“4
Makarevič, Andrej (2001): Vse očenʹ prosto, in: Makarevič A.: Sam ovca, Moskau, S. 172-173
Wassin, Kolja (2007): Rok na russkich kostjach, Sankt Petersburg
Drehbuch und Text: Dimitri Koslow
Illustrationen: Anna Che
Animation: Philipp Yarin und Victoria Spiryagina
Übersetzung aus dem Russischen: Ruth Altenhofer
Veröffentlicht: 29. August 2022