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Andrej Sacharow

Андрей Сахаров

Mein Schicksal war in gewisser Hinsicht außergewöhnlich … Nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern aus dem Wunsch heraus, mich präzise auszudrücken, möchte ich festhalten, dass mein Schicksal bedeutender war als meine Persönlichkeit. Ich habe nur versucht, mit ihm Schritt zu halten.

Andrej Sacharow im Interview für Molodjosh Estonii, 1988

Andrej Sacharow war ein Ausnahme-Physiker in einem Ausnahme-Jahrhundert. Als Ausnahme-Talent rekrutierte ihn die sowjetische Regierung unter Stalin für eines der wichtigsten Unternehmen der Sowjetunion – den Bau der Wasserstoffbombe. Er wurde gefeiert und ausgezeichnet, hatte Zugang zum Kreml und den Parteiführern. Als Ausnahme-Intellektueller ließ er sich aber durch seine Privilegien in seinem Denken nicht korrumpieren. Er akzeptierte nicht, dass die Staatsführung den Tod von Tausenden von Menschen in Kauf nahm, nur um weiter Bomben zu testen. Furchtlos stellte er den Machthabern unbequeme Fragen. Vom Kampf für Menschenleben war es nur noch ein kleiner Schritt hin zu seinem Eintreten für Menschenrechte.

1921 geboren ist Sacharow nur ein Jahr älter als die Sowjetunion selbst. Er wächst in Moskau im Haus seiner Großmutter auf, das er später liebevoll als „Sacharowʼsches Haus“ bezeichnet. Für ihn ist das mehr als nur ein Zuhause, es ist ein geschützter Raum, in dem er wachsen und sich entwickeln kann. Doch die Geschichte dringt letztlich auch hier ein und macht Sacharow nicht nur zu ihrem Augenzeugen, sondern zu ihrem Teil und Werkzeug.

Idylle und Terror

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Die Epoche, in die meine Kindheit und Jugend fiel, war voller Tragik, Grausamkeit und Schrecken. … Es war auch die Zeit einer besonderen Geisteshaltung der Massen; sie entstand aus der Wechselwirkung zwischen dem noch nicht erkalteten revolutionären Enthusiasmus und den Hoffnungen, dem Fanatismus, der totalen Propaganda, den gewaltigen realen sozialen und psychologischen Veränderungen in der Gesellschaft, der Massenlandflucht und natürlich dem Hunger, der Bösartigkeit, dem Neid, der Furcht, der Ignoranz, dem Zerfall sittlicher Kriterien nach vielen Jahren des Krieges, der Greuel, der Morde und der Gewalt.

Andrej Sacharow, Mein Leben

Im „Sacharowʼschen Haus“ lebt Andrejs Familie mit zahlreichen Verwandten zusammen. Jede Familie bewohnt ein Zimmer, nur Andrejs Familie hat zwei. Seine Eltern stammen aus dem Adel beziehungsweise dem Bildungsbürgertum und halten sich und ihre zwei Söhne lieber weit entfernt von den Bolschewiki. Um ihre Kinder vor Indoktrination zu schützen, bekommen sie Privatunterricht. Erst 1934, im Alter von 13 Jahren, kommt Andrej auf eine staatliche Elite-Schule, die er 1938 mit Auszeichnung abschließt. All das können sich seine Eltern leisten, weil sein Vater als Physiker mit Fachbüchern gut verdient. Selbst Sommerurlaub auf dem Land, am Meer oder in den Bergen ist für die Familie drin.

Seine Kindheit beschreibt Sacharow später als eine idyllische Zeit. Doch der Stalinʼsche Terror macht auch vor dem Sacharow’schen Haus nicht halt: Zwei Onkel, die mit ihnen im Haus leben, holt der NKWD ab. Auch drei Geschwister seiner Mutter werden verhaftet. 

Der Kriegsbeginn 1941 fällt mitten in Sacharows Physik-Studium in Moskau. Da der Lehrbetrieb nach Aschgabat in Turkmenistan verlegt wird, muss er eine sechswöchige Zugfahrt nach Zentralasien antreten. Der Krieg bereitet dem Leben im „Sacharowʼschen Haus“ nicht nur im übertragenen Sinne ein Ende: Am Tag von Andrejs Abreise zerstört eine deutsche Bombe das Haus; seine Verwandten bleiben zum Glück unverletzt. Andrej Sacharow ist jedoch bereits auf dem Weg nach Aschgabat, als er die Nachricht erhält.

Krieg und Wissen­schaft

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Die Fahrt dauerte einen ganzen Monat, und in dieser Zeit bildete sich in jedem Wagen ein besonderer Zug-Alltag heraus mit Anführern, Schwätzern und Schweigern, Panikmachern, Organisierern, Vielfraßen, Faulenzern und Geschäftigen. Ich war eher wortkarg, las [den Physiker Jakob] Frenkel, hielt jedoch die Augen und Ohren offen für das, was sich um, im und außerhalb des Wagens abspielte und was in dem vom Krieg angeschlagenen Lande vorging, durch das unser Weg führte.

Andrej Sacharow, Mein Leben

In der Evakuierung schließt Sacharow 1942 sein Studium mit Auszeichnung ab – und lehnt eine ihm angebotene Promotionsstelle ab. Der Krieg dauert an, und er möchte lieber in einer Fabrik Munition für die Front herstellen. Er arbeitet in einer Fabrik in Uljanowsk, wo er seine erste Frau Klawa kennenlernt, mit der er später drei Kinder hat. Erst Anfang 1945 kehrt Sacharow mit seiner Frau nach Moskau zurück, um doch in theoretischer Physik zu promovieren.

Im Zweiten Weltkrieg besiegen die USA und die UdSSR gemeinsam Nazi-Deutschland. Doch seit 1945 sehen sie sich als ideologische Gegner, von denen nur die USA die Atombombe haben. Also wird in der UdSSR mit Hochdruck an eigenen Nuklearwaffen gearbeitet. Sacharow wird nach Abschluss seiner Promotion 1947 für diese geheime Forschung rekrutiert. Seit 1950 lebt er mit seiner Frau auf dem „Objekt“, einer geheimen Forschungseinrichtung 500 Kilometer von Moskau entfernt.

Bereits einige Monate nach Stalins Tod zündet die Sowjetunion im August 1953 ihre erste Wasserstoffbombe, an deren Entwicklung Sacharow maßgeblich beteiligt ist. Zwei Jahre später gelingt ihm die Entwicklung einer noch tödlicheren Waffe, über deren Zerstörungskraft Sacharow entsetzt ist. Er berechnet, dass allein der Test einer Bombe von einer Megatonne Sprengkraft 10.000 Menschen das Leben kostet. Seine Erfindung hält er im Kontext des Kalten Krieges zwar nach wie vor für richtig. Doch von nun an drängt er die Parteiführer, Atomwaffen im Rahmen gegenseitiger Abrüstung weder einzusetzen, noch zu testen. Dafür nutzt er auch den feierlichen Empfang im Kreml im Juli 1961, wo er dem Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow einen Zettel zusteckt.

Die Wasser­stoff­bombe

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Sacharow (Notiz an Chruschtschow): Ich bin überzeugt, daß die Wiederaufnahme der Versuche vom Standpunkt der relativen Stärke der UdSSR und der USA jetzt unzweckmäßig ist.

Chruschtschow (in der Sitzung): Man kann ein guter Wissenschaftler sein und nichts von politischen Dingen verstehen. … Sacharow, bemühen Sie sich nicht, uns Politikern zu diktieren, was wir zu tun und zu lassen haben. Ich wäre ein Schwächling und nicht Vorsitzender des Ministerrats, wenn ich auf solche Leute wie Sacharow hören würde!

Andrej Sacharow, Mein Leben

Sacharow hat einen Teilerfolg: Er kann Chruschtschow überzeugen, 1963 ein Abkommen mit den USA und Großbritannien zu unterschreiben, das Atomtests zu Wasser, im Weltraum und in der Atmosphäre verbietet.

Doch ein Jahr später wird Chruschtschow von Leonid Breshnew gestürzt. Wie viele andere befürchtet Sacharow, dass Stalin rehabilitiert und Menschen wieder verfolgt werden. Er beginnt, Briefe an die Machthaber zu unterschreiben, in denen Intellektuelle vor einer Rückkehr des Terrors wie unter Stalin warnen. Ein erstes Anzeichen dafür sehen sie in der Verhaftung der beiden Schriftsteller Andrej Sinjawski und Juli Daniel im Herbst 1965, die im Ausland Satiren über die Sowjetunion veröffentlicht haben. Obwohl das laut Verfassung nicht verboten ist, werden sie 1966 zu Lagerhaft verurteilt.

Am 5. Dezember 1966, dem Tag der Verfassung, nimmt Sacharow zum ersten Mal an einer Demonstration am Puschkin-Denkmal in Moskau teil. Kritik an Verhaftungen von Andersdenkenden muss staatskonform geäußert werden. Also haben sich die Aktivist∙innen eine Schweigeminute zu Ehren der Verfassung ausgedacht, bei der sie alle die Hüte ziehen wollen. Laute Unmutsbekundungen oder politische Forderungen würden die Demonstrierenden in Gefahr bringen. Stattdessen liest Sacharow laut die Inschrift auf dem Sockel des Puschkin-Denkmals vor.

„Weil ich die Freiheit pries …“

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Und lang wird liebend mich das Volk im Herzen tragen,
Weil Edles ich erweckt mit meiner Leier Klang,
Weil ich die Freiheit pries in unsern strengen Tagen
Und Nachsicht mit den Opfern sang.

Inschrift auf dem Puschkin-Denkmal

Sacharows Engagement für Menschen, die für ihre Meinungsäußerungen verhaftet und verurteilt wurden, nimmt in 1960er Jahren stetig zu. Er nutzt seine Prominenz und seinen (noch) engen Kontakt zu den Machthabern, um sich in Briefen an sie für die Verurteilten einzusetzen. Außerdem spricht er sich gegen die Verschärfung des Strafrechts aus und engagiert sich für den Umweltschutz. Schließlich beginnt er, nach Feierabend auf dem „Objekt“ seine Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit, kurz: sein Manifest, zu Papier zu bringen.

Sachar­ows Manifest

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Die Zivilisation wird gefährdet: durch einen allgemeinen thermonuklearen Krieg, durch Hungerkatastrophen, durch die Narkose der „Massenkultur“ und des bürokratischen Dogmatismus sowie durch eine Verbreitung von Massenlegenden, die ganze Völker und Kontinente unter die Gewalt grausamer und verlogener Diktatoren bringen, und schließlich durch die Zerstörung und Degeneration, welche die raschen Veränderungen der Lebensbedingungen auf unserem Planeten herbeiführen.

Andrej Sacharow, Wie ich mir die Zukunft vorstelle , 1968

In seinem Manifest warnt Sacharow, es sei jetzt der letzte Moment, um die Menschheit vor einem Dritten Weltkrieg, den Planeten vor der Zerstörung und die geistige Freiheit vor staatlicher Unterdrückung zu schützen.

Er gibt es Freunden zu lesen und richtet es an den Parteichef Leonid Breshnew, mit dem er gern darüber diskutieren möchte. Aber am 6. Juli 1968 druckt es eine holländische Zeitung ab. Sacharow erfährt es durch die BBC, die davon berichtet. In Moskau ist man entsetzt: Sacharow verliert seine Anstellung am „Objekt“, darf aber an der Akademie der Wissenschaften weiterforschen. Im Westen ist man dagegen begeistert: 18 Millionen Menschen lesen seine Gedanken und Forderungen.

1970 gründet Sacharow gemeinsam mit anderen Andersdenkenden das Komitee für Menschenrechte, denen er sich in den folgenden Jahren zusammen mit seiner zweiten Frau Elena Bonner ganz widmet. Er nutzt seine Prominenz, um seine Forderungen auch an ausländische Botschaften zu übermitteln und Pressekonferenzen in seiner Wohnung abzuhalten.

„Für seinen Kampf für die Menschenrechte in der Sowjetunion, für Abrüstung und Zusammenarbeit zwischen allen Nationen“ erhält er 1975 den Friedensnobelpreis, den allerdings nicht er persönlich, sondern stattdessen seine Frau in Oslo entgegennehmen darf. Das Politbüro berät schon damals, ob es Sacharow verbannen soll, entscheidet sich aber aufgrund seiner internationalen Prominenz dagegen. Das ändert sich, als Sacharow angesichts des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan 1979 dazu aufruft, die Olympischen Spiele in Moskau 1980 zu boykottieren.

Die Verban­nung

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Nach einem alten olympischen Brauch werden Kriege für die Dauer der Spiele eingestellt. Ich meine, dass die UdSSR ihre Truppen aus Afghanistan abziehen sollte. Dies ist äußerst wichtig für die Welt, für die ganze Menschheit. Andernfalls sollte das Internationale Olympische Komitee sich weigern, die Spiele in einem Land abhalten zu lassen, das Krieg führt.

Andrej Sacharow, Mein Leben

Am 22. Januar 1980 befindet sich Sacharow auf dem Weg zur Arbeit, als die Polizei seinen Wagen stoppt und zur Staatsanwaltschaft umleitet. Dort wird ihm mitgeteilt, dass ihm alle staatlichen Auszeichnungen entzogen werden und er in die Stadt Gorki verbannt wird – eine Stadt, die für Ausländer gesperrt ist.

Sechs Jahre ist Sacharow in Gorki auf seine kleine Wohnung am Stadtrand beschränkt. Anfangs hält seine Frau für ihn den Kontakt zur Außenwelt, aber ab 1984 darf auch sie Gorki nicht mehr verlassen. Telefon und Radioempfang sind ihnen verboten; die Wohnung wird permanent überwacht und mehrfach durchsucht. Das einzige Protestmittel ist der Hungerstreik. Dreimal setzt Sacharow dieses Mittel ein, um private und politische Forderungen durchzusetzen, bis ihn die Ärzte zwangsernähren.

Am 15. Dezember 1986 klingelt es spät abends an ihrer Tür. Drei Männer erscheinen, die ein Telefon installieren und mitteilen, es werde am nächsten Tag ein Anruf kommen. Sacharow und seine Frau warten – am Nachmittag des nächsten Tages läutet das Telefon.

Die Rück­kehr

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Guten Tag, hier spricht Gorbatschow.

Guten Tag.

Sie bekommen die Möglichkeit, nach Moskau zurückzukehren.

Ich bin Ihnen dankbar! Aber vor ein paar Tagen wurde mein Freund Martschenko im Gefängnis umgebracht. Ich habe ihn in dem Brief, den ich Ihnen schickte, an erster Stelle genannt. In dem Brief bat ich darum, die Gewissensgefangenen – Menschen, die ihrer Überzeugung wegen verfolgt werden – freizulassen. … Ich flehe Sie an, die Freilassung, der Menschen, die ihrer Überzeugung wegen verurteilt wurden, noch einmal zu erwägen.

Andrej Sacharow, Mein Leben

Sacharow und Bonner werden in Moskau am Bahnhof von hunderten begeisterter Menschen empfangen. Sie nehmen sofort ihr Engagement für Menschenrechte und Demokratie wieder auf; sie reisen durchs In- und Ausland und treffen internationale Staatschefs. Doch Michail Gorbatschow hat sie zwar in die Freiheit entlassen und will mit seinem Programm von Glasnost und Perestroika das Land reformieren und Politik transparent gestalten. Aber Sacharows Reden werden nach wie vor nicht gedruckt. Die Demokratisierung, die er sich vorstellt, geht wesentlich weiter als das, was Gorbatschow erlauben will. Zu Gorbatschows Missfallen gründet Sacharow zusammen mit anderen Andersdenkenden die erste demokratische Partei und die Organisation Memorial , die sich bis heute für die Aufarbeitung des Stalinismus einsetzt.

Obwohl die Akademie der Wissenschaften Sacharow nicht als Kandidaten für den ersten Volksdeputiertenkongress aufstellt, wird er im Frühjahr 1989 von vielen Demokratie-Anhänger∙innen als Delegierter in das erste halbfrei gewählte Parlament gewählt, wo er sich legendäre Auseinandersetzungen mit Gorbatschow liefert.

Der Volks­deputier­tenkon­gress

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Gorbatschow: Bitte, Andrej Dimitrijewitsch, Sie haben fünf Minuten.

Sacharow: Wir werden sehen, ob das reicht. Das reicht nicht unbedingt … Und ich muss sagen, dass meine Situation doch eine gewisse Ausnahme bildet, ich lege hier vor mir Rechenschaft ab und spüre Verantwortung. Deswegen werde ich so sprechen wie ich es vorhatte.

Andrej Sacharow, Mein Leben

Obwohl Gorbatschow ihn nicht (aus)reden lassen will, ergreift Sacharow im Namen der demokratischen Opposition das Wort. Er streitet für eine Reform der Verfassung, in der es kein Machtmonopol der Kommunistischen Partei, dafür aber tatsächliche Rede- und Versammlungsfreiheit gibt. Nach dem ersten Volkskongress entwirft er sogar eine eigene Verfassung. Auf dem zweiten Kongress, der am 12. Dezember 1989 beginnt, plädiert er erneut vehement dafür, die Kommunistische Partei aus der Verfassung zu streichen.

Am Abend des 14. Dezember 1989 legt sich Sacharow kurz hin. Er bittet seine Frau, ihn um 21 Uhr zu wecken, damit er noch seine Rede für die Sitzung im Kongress am nächsten Tag vorbereiten kann. Doch als sie zu ihm kommt, ist er bereits tot. Zu diesem Zeitpunkt ist Sacharow  erst 68 Jahre alt.

Drei Monate später wird das Machtmonopol der Kommunistischen Partei aus der Verfassung gestrichen; zwei Jahre später zerfällt die Sowjetunion in 15 unabhängige Staaten.

Bereits 1987 beschließt das Europa-Parlament, den Sacharow-Preis für geistige Freiheit einzurichten. Die ersten beiden Preisträger sind 1988 der südafrikanische Freiheitskämpfer Nelson Mandela und Anatoli Martschenko – Sacharows Freund, der im Gefängnis umgekommen ist. Der Preisträger 2021 ist der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, der sich aufgrund einer zweifelhaften Verurteilung derzeit im Straflager befindet.

Drehbuch und Text: Susanne Schattenberg 
Illustrationen: Anna Che 
Animationen: Philipp Yarin
Veröffentlicht: 14. Dezember 2021